■ Was machen computergesteuerte Systeme, wenn Samstag die Digitalanzeige von 99 auf 00 umspringt? In den USA reichen die Szenarien vom Flugzeugabsturz bis zum Bankencrash. Regierung und Wirtschaft haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, die Gefahr zu bannen. Der Umgang mit dem Millenniumproblem ist zur Religion geworden.
: „Y2K“ ist eine Glaubensfrage

Morgen wird John Koskinen unter Dutzenden von Großmonitoren und vor ganzen Batterien von Computerbildschirmen und Telefongeräten seinen Platz einnehmen – zusammen mit hundert Mitarbeitern in einem eigens für den Jahrtausendwechsel gebauten Büro im Zentrum Washingtons.

Koskinen ist Bill Clintons Sonderbeauftragter für den Countdown zum Jahreswechsel 2000. Das Büro soll man sich laut Koskinen wie ein Zwischending aus Leitzentrale der Nasa und dem strategischen Nervenzentrum des Pentagon für die Führung eines Atomkriegs vorstellen – ungefähr so wie es CBS für seinen Anfang Dezember ausgestrahlten Horrorfilm „Y2K“ baute.

Y2K ist das Kürzel für das Jahr 2000. Gemeint ist damit der Computerfehler, der daraus resultiert, dass ältere Programme die Jahreszahlen mit zwei statt vier Stellen angegeben haben. Preisfrage: Was machen computergesteuerte Systeme, wenn in der Silvesternacht die Digitalanzeige von 99 auf 00 umspringt? Kommt die kybernetisch gesteuerte und vernetzte Welt zum Stillstand, gehen die Lichter aus, oder flackern sie nur hier oder da mal kurz?

Die Szenarien reichen vom Flugzeugabsturz bis zum Bankencrash, vom Ausfall der Luftüberwachung bis zum Versagen medizinischer Geräte in Krankenhäusern, vom Verlust des Notrufsystems bis zu leeren Regalen in den Supermärkten. „Der Umgang mit der Größe 2000 ist zur Religion geworden“, hieß es Ende November im Silicon Valley Newspaper. „Niemand weiß, was passieren wird, und die Leute glauben, was sie wollen.“ Die Bandbreite der Reaktionen reicht von Gleichgültigkeit bis Panik, von intensiver Vorbereitung bis zur Flucht in Wildnis und Wüste.

Die US-Regierung stellte im Weißen Haus eine Art Sonderkommissar ein und gab insgesamt 8,3 Milliarden US-Dollar aus für die Behebung des Fehlers in Pentagon und in der Rentenverwaltung – um nur zwei kritische Bereiche zu nennen. Im Kongress entstand ein Sonderausschuss für das Problem. Auch die Banken haben sich die Reparatur des Fehlers Milliarden kosten lassen und werben seit Wochen mit Y2K-sicheren Konten.

Inzwischen wird Entwarnung gegeben. International Data Corporation, eine Firma, die Wirtschaftsrecherchen macht, schätzt, dass höchstens 0,2 Prozent der für die Wirtschaft wichtigen Systeme versagen könnten und dass Ausfälle in Stunden oder bestenfalls Tagen repariert würden. Dabei hilft, dass der 1. Januar ein Samstag ist, ein Tag, an dem Banken und Börsen geschlossen sind. Es hilft auch, dass weite Landstriche der USA auf Kälteeinbrüche und Blizzards vorbereitet sind, bei denen Verkehr und Stromversorgung ohnehin zum Erliegen kommen. Mehr sorgen machen der US-Regierung der Umgang mit dem Problem in anderen Ländern und mögliche Anschläge auf US-Institutionen in der Silvesternacht.

Vor allem die Atomkraftwerke, die Raketenabwehr und die Luftüberwachung in Russland bereiten Washington Sorge. John Koskinen wird in ständiger Verbindung mit Moskau stehen. Sein Vertrauen in die US-Flugsicherheit wird er am 31. Dezember um 18 Uhr höchtselbst damit beweisen, dass er von New York nach Washington fliegen wird. 53 Prozent der Amerikaner aber wollen an diesem Tag lieber nicht fliegen, 58 Prozent werden der Empfehlung folgen und ihre Bank- und Investmentunterlagen sammeln und ordnen – wer weiß, was im neuen Jahr auf dem Bildschirm der Bankschalter steht. 48 Prozent werden Vorräte anlegen, 25 wollen Bargeld abheben, und 13 Prozent wollen sich einen Generator kaufen für den Fall, dass der Strom ausfällt; im Oktober waren es noch 24 Prozent.

Aus der Angst vor Y2K ließ sich auch Geld machen. Seit Monaten steigen die Preise für Computer, statt weiter zu sinken. Viele Menschen suchten Y2K-Sicherheit durch Neukauf von Hard- und Software. Auch die Nachfrage nach Systemberatern stieg. Der Verdienst von Programmierern, die der alten Computersprache COBOL noch mächtig sind, stieg auf das Drei- und Vierfache. Inzwischen aber meldet USA Today Entlassungen bei Firmen, die Y2K-Fehlerreparaturen anboten.

Zu unverhofftem Gewinn kam dafür John Lehman, ein weißbärtiger Herr, der in Indiana die Gemeinde der Amish bedient, die weder Strom benutzt noch Auto fährt. Er verkauft seit 1955 stromloses sowie Lowtech-Gerät, als da sind Holzöfen, Kompostlatrinen, Wasserfilter und -pumpen, Einmachgerät, gasbetriebene Kühlschränke, handgetriebene Getreidemühlen und Wasserpumpen. Seine schon vor der Y2K-Aufregung eingerichtete Website www.lehmans.com wurde überrannt. Jetzt fürchtet er im Januar das Tief nach der Kapazitätsausweitung.

Lieblingskinder der US-Medien waren dieses Jahr jene, die sich aus Furcht vor dem völligen Zusammenbruch in die Wildnis zurückzogen, dort Blockhäuser bauten, Vorräte anlegten und sich bewaffneten, um hungrige Städter abzuwehren. Unter diesen Zivilisationsflüchtlingen waren übrigens etliche Programmierer. Die Kehrseite bildeten jene, die sich von Y2K nichts Geringeres als eine gesellschaftliche Revolution versprachen. Der Utne Reader, ein alternatives Magazin, brachte ein Überlebenshandbuch heraus, das nicht nur eine Liste der wichtigsten Vorräte, sondern auch Anleitungen zu Nachbarschaftshilfe enthält. Das Versagen aller technischen Systeme, heißt es, werde dazu führen, dass sich die Amerikaner wieder auf Gemeinschaft und Solidarität besinnen. Peter Tautfest, Washington