: Wenn die Sonne weint
Drei Jahre dauerte der Krieg in Bosnien – die Bilanz: 145.000 Tote, 174.000 Verletzte, mehrere Millionen Flüchtlinge sowie hunderttausende traumatisierte Kinder. Ihnen hilft der Verein Kinderberg mit einer gezielten Therapie, auch der neunjährigen Zehra Von Petra Welzel
So ein zwanzig-Quadratmeter-Zimmer ist groß, wenn man neun ist und nur auf Zehenspitzen über die auf 1,20 Meter gestutzten Vorgartenhecken blicken kann. Riesig sind die beiden Sofas gleich rechts neben der Tür. Vor allem wenn man allein ist. Doch die anderen Kinder sind noch nicht da. Die tiefbraunen Augen im blassen Gesicht weit aufgesperrt, die Hände aneinander gepresst und zwischen die Knie geklemmt, wartet Zehra auf der äußersten Ecke eines der Polster.
Zehra ist heute zum ersten Mal in den „Kinderberg“ gekommen. Ihr Vater hat sie hierher gebracht. Die anderen Kinder würden gleich mit dem Bus kommen, hat die Frau gesagt, die sie begrüßte: Sie heiße Aysa. Dann hat sie Zehra das Spielzimmer gezeigt und sie allein gelassen mit den Regalen voll Puppen, Knetmasse, Stiften, Tuschkästen, Spielen und Büchern. Wegen ihnen hatte sie es heute früh so eilig gehabt – doch jetzt traut sie sich nicht vom Fleck. Nicht einmal mehr die Haare hat sich Zehra von ihrer Mutter bürsten lassen. Sie ist aufgeregt.
Der Kinderberg ist nicht hoch, geschweige denn überhaupt ein Berg, aber irgendwie eine Absprungschanze, von der sie in einem halben Jahr springen soll: Weil der Kinderberg ein psychosozialer Kindergarten ist und Zehra kriegstraumatisiert und deshalb manchmal anders als andere Kinder. Unkonzentriert, ungeduldig. Auch ängstlich und still. Oft schläft sie kaum und hat Magenschmerzen. Gelegentlich tobt sie. Nicht wie andere Kinder im Eifer des Spiels, sondern aus Wut und Zorn: „Oh, wie ich meine Kusine hasse, und was ich überhaupt alles hasse“, schnaubt Zehra dann explosionsartig – unerwartet aus heiterem Himmel.
Aus dem fielen vor sieben Jahren auch die Bomben auf ihre Heimatstadt Tuzla in Nordbosnien und zerstörten das Haus, in dem sie mit ihren Eltern und der älteren Schwester lebte. Es war wie auf dem Bild, das jetzt über ihr an der Wand hängt. Da kommen Panzer von den Bergen, alle Häuser brennen, und oben in der Ecke weint die Sonne. In der Psychologie heißt es, wer sich nicht in eine solche Situation hineinversetzt, wird eine traumatische Erfahrung nicht verstehen.
Mit Schwung geht die Zimmertür auf, und Zehra dreht sich flink wieder um. Sieben Mädchen und ein Junge kommen herein, erst lautstark, dann kurz verstummend und sich um Zehra versammelnd. Einige sind größer, zwei noch kleiner als sie. Sie fragen nach ihrem Namen und streicheln ganz beiläufig über ihr aschblondes Haar. Leicht rosa glänzt Zehras durchsichtige Haut vor Freude, und ein Lächeln huscht über die Lippen. Auch Aysa ist hinter den Kindern ins Zimmer geschlüpft. Der Knoten an der Tür löst sich, und Zehra greift nun mit den anderen zu den Kasperlepuppen, während die freundliche Frau anhand eines Heftes die Anwesenheit prüft.
Dann treten alle zum Frühstück an, das Fadila, die Köchin, vorbereitet hat. Rechts raus auf den grünen Flur, links rein in die gelbe Küche, Abstecher nach links ins rosa Bad zum Händewaschen, schließlich an den Tisch. Es gibt Weißbrotstullen, mit viel Butter und Mortadella, und Tee. Zehra isst am schnellsten, flitzt wieder ins Spielzimmer, schnappt sich die große Stoffbanane, „hmmh, lecker“, und beißt hinein. Dann muss sie selbst über sich lachen und fasst an ihre schief gewachsenen Schneidezähne, als hätten sie eben noch gerade gestanden.
„Bei Kindern ist es viel schwerer, festzustellen, ob sie traumatisiert sind“, sagt später Dr. Amir Arnautalić im blauen Büro: „Die sitzen nicht einfach nur in der Ecke, sind depressiv und reden nicht. Vor allem sagen sie nicht, dass sie Hilfe brauchen.“ Der virzigjährige Neuropsychiater leitet nicht nur die akute Psychiatrie im Krankenhaus von Tuzla, sondern auch die psychosozialen Kindergärten des Stuttgarter Vereins „Kinderberg“ in Bosnien. Der Verein nahm im Sommer 1992 mit Hilfslieferungen und kinderärztlicher Versorgung in bosnischen Flüchtlingslagern seine Arbeit als spendenfinanzierte, unabhängige Hilforganisation auf.
Als sich Ärzte von „Kinderberg“ zwei Jahre darauf an einem Unterstützungsprojekt für vergewaltigte Flüchtlingsfrauen in Tuzla beteiligten, fiel ihnen auf, wie schwer traumatisiert auch deren Kinder waren, die oft mit ansehen mussten, wie ihre Mütter vergewaltigt und geschlagen wurden. Bis zur Angst ums eigene Leben haben diese Kinder erlitten, was außerhalb jeglicher normaler menschlicher Erfahrung liegt. Hilft man ihnen nicht, sind die so genannten posttraumatischen Belastungsstörungen in ihrem Leben programmiert. Alle möglichen denkbaren körperlichen und seelischen Symptome, die sich dauerhaft einnisten können und eine verspätete Traumabewältigung be-, gar verhindern.
Für die ersten zwanzig Kinder mietete Amir Arnautalić damals die Dreizimmerwohnung nahe dem Stadtzentrum. Er ließ sie in den Farben des „Kinderberg“-Logos streichen und entwickelte einen Fragenkatalog und einen sechsmonatigen Therapieplan. Bis heute haben 1.500 Kinder dort und in den mittlerweile in Banovići, Puračić und Gradačac im Kanton Tuzla entstandenen „Kinderberg“-Einrichtungen gespielt, ihre Erinnerungen an den Krieg und irgendwann auch ihre Zukunft gemalt. Sie haben Rollenspiele eingeübt, haben Geschichten erzählt oder erzählt bekommen, auch aufgeschrieben. Miteinander gesprochen, gestritten und geweint, sich unter Anleitung bewegt und verbogen und dabei entspannt. Und einmal sind sie gemeinsam in den Urlaub gefahren, entweder ans Meer oder auf einen echten Berg.
Amir Arnautalić und sein Team haben dabei unbemerkt ihre Antworten, Geschichten und Bilder analysiert, nachgehakt, gelenkt – und zugehört, bis die Kinder von selbst über ihr Trauma sprachen, die Aggressiven unter ihnen nicht mehr aus der Haut gefahren sind, die Stummen redeten, die Schwachen erstarkten: „Das sind andere Kinder, die hier nach sechs Monaten rausgehen“, sagt Amir Arnautalić.
Zunächst einmal staunt Zehra über einen kleinen Mann mit Hakennase, dem alle Kinder laut um Bauch und Hals fallen. Ibrahim sei das und immer so lustig. Dr. Arnautalić, das sei der „Scheff“. Den nennen hier alle so, auch Aysa, Fadila, Ibrahim und das restliche Team. Die Mädchen und Jungs glauben, er sei mindestens so wichtig wie ihr Schuldirektor, und sagen deshalb immer höflich Guten Tag. Manchmal zeigen sie ihm auch ihre Bilder, zum Beispiel die siebenjährige Jasmina im Kindergarten von Banovići am folgenden Tag. Ein Bild von ihrem schönsten Erlebnis: zwei Fünfen von ihrer Lehrerin. Nur Sechsen sind in Bosnien besser. Lobend streichelt ihr der „Scheff“ über den Pagenkopf. Und bedauert: „Als Leiter des Projekts habe ich viel zu selten Kontakt mit den Kindern. Selbst wenn wir unsere Abschlussreisen ans Meer machen, stehe ich nur wie ein Bademeister auf einem Turm und passe auf, dass keines der hundert Kinder untergeht.“
Bevor Ibrahim droht, unter den Kinderarmen baden zu gehen, besteht der hauptberufliche Gefängnispsychologe auf Kinderyoga zur Beruhigung des Aufruhrs. Tief und ruhig einatmen – und ausatmen. Erst auf dem einen, dann auf dem anderen Bein balancieren. Mal mit offenen Augen, mal mit geschlossenen. Da taumelt und schummelt nicht nur Zehra. Auch als Ibrahim sie auf eine imaginäre Reise an einen sonnigen Strand einlädt, gehen ständig Augen auf und zu. Dabei sollen hinter den Lidern die Bilder von Meeresbrandung, Sonne, Fanta und Cola entstehen. Endgültig holt sie Ibrahims Handy zurück auf den sandfarbenen Boden ihres Zimmers in Tuzla.
Anschließend wollen sie über Mädchen und Jungs reden, schlägt Ibrahim vor. „Vielleicht ist ja jemand verliebt“, sagt Zehra – und wie nach jahrelanger Beziehungserfahrung: „Ich habe einen Freund, aber ich bin nicht verliebt. Es ist nur Sympathie.“ Es ist ihr erster Freund, und Erfahrung hat Zehra vor allem als Flüchtlingskind. Sieben Jahre hat sie in Deutschland verbracht. Erst vor wenigen Monaten ist sie aus dem Land zurückgekommen, in dem sie nie wirklich angekommen ist: „Ich habe in der Münchener Straße 9 gewohnt. Den Ort? – den habe ich vergessen.“
Zwei Tage später steht Zehra schon um acht Uhr vor dem Kinderberg. Sie wird heute allein bleiben, weil an Tuzlas Schulen die Vor- und Nachmittagsklassen getauscht haben. Diejenigen, die zur Therapie bisher an zwei Tagen in der Woche am Morgen kamen, werden nun an den beiden anderen Tagen mittags kommen. Und umgekehrt. Ab der nächsten Woche läuft alles wieder nach Plan, Zehra hat heute eben Einzeltherapie. Aber sie denkt nur ans Spielen: „Die haben hier so viele Spielsachen, wie meine Kusine in Deutschland. Das ist so schön!“
Zehra öffnet heute aber auch noch die Tür zu dem dritten Zimmer der Wohnung. Es ist ein weiterer blauer Raum, in dem Ramiz, Vahid und Mirsad leben. Ramis hat im Krieg seine Eltern verloren, Vahid beide Arme und Mirsad beide Arme und ein Bein. Rund um die Uhr werden die Jungen von zwei Sozialarbeitern betreut, sodass sie in Tuzla eine Ausbildung machen können und mit ihrer Versehrtheit nicht allein sind.
Zehra setzt sich mit Vahid ins Spielzimmer, knetet mit ihm kleine Objekte, die sie hinterher anmalen. Zehra drückt für Vahid die Farben aus den Tuben, während seine Prothese, mit der er den Pinsel führt, leise surrt. Auf dem Weg nach Hause fragt Zehra: „Warum hat der Junge kein Bein mehr?“ Sie hat Mirsad nur kurz gesehen, aber er ist es, der ihr nicht aus dem Kopf geht. „Ah, Stromschlag, ich weiß. Mein Vater hat auch sein Bein verloren“, sagt sie und schneidet sich mit der Hand andeutend oberhalb des Knies das Bein ab. „Ich war da zwei Jahre alt“, erzählt sie weiter, „das waren Granaten. Unser Haus haben die auch kaputtgemacht. Ich erinnere mich nicht mehr richtig daran. Ich bin immer nur, wenn ein Helikopter kam, unter einen Stuhl gekrochen und habe geschrien: Die schießen, die schießen! Zum Glück haben die mich nicht getroffen.“
Die tote weiße Katze in der Gosse sieht Zehra nicht. Sie verschwendet auch keinen Blick an die vielen Roma-Kinder in der Stadt, die bei den schon winterlichen Temperaturen barfuß und bettelnd durch die Straßen ziehen. Nur etwas ängstlich überquert sie eine der Brücken über die Jalla, eine vielleicht zehn Zentimeter hohe Kloake, die die Stadt teilt und mit dem Geruch von Stinkbomben füllt. Zehra riecht das nicht. Sie denkt nach und ahnt doch nicht, dass sie zum ersten Mal über ihr Trauma gesprochen hat. Sie ist über den Berg.
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