Silvester war schon gestern

■ Die weisen Alten der Stadt umgehen das Millenniums-Brimborium. Bei der Volkssolidarität in Mitte feierten die zeitbewussten Senioren schon gestern ihr Silvester. Heute ist nur eines sicher: Die Jalousien bleiben unten

Millionen fallen sich heute Nacht saufselig um den Hals. Ob es dabei um den Jahrtausendwechsel geht oder nicht, bleibt offen. Nur die wirklich Weisen dieser Stadt wissen: Silvester ist schon vorbei.

Weil sich alte Leute wegen Knallerei, Mord und Totschlag am 31. Dezember nicht auf die Straße trauen – schon gar nicht nachts – feierten Rentner in der „Senioren Freizeit- und Begegnungsstätte“ der Volkssolidarität in Mitte bereits gestern Nachmittag ihr Silvesterfest.

Pünktlich um 14 Uhr sitzen knapp 50 rausgeputzte Senioren aus ganz Berlin vor ihrem Kaffegedeck mit süß-klebrigem Pfannkuchen. Aus gegebenem Anlass hat man sich hier Mühe gemacht. Girlanden schmücken die Decke und auf den Tischen stehen Piccolo-Flaschen mit Rotkäppchen Sekt halbtrocken. Viele Gäste tragen Papphüte oder Goldkrönchen. Peter Ott sorgt mit seiner „Studio Disco“ für Schlagermusik – die Luft verklumpt von Bratenduft und Festtagsstimmung.

Seit 13 Jahren ist bei der Volkssolidarität in Mitte jedes Jahr schon ein Tag früher Silvester. Am eigentlichen Jahreswechsel traut sich nämlich keiner der Anwesenden vor die Tür. „Wegen der Knallerei“, erklärt eine Frau in roter Bluse. Ihre Tischnachbarin nickt. Sie wird an den letzten 24 Stunden des Jahres die Jalousien unten halten. „Ich trau mich doch nicht das Fenster aufzumachen, bei dem Gestank, der da reinkommt.“

Die kommende Mitternacht werden die Senioren still allein oder im kleinen Familienkreis verbringen. „Das Fersehprogramm ist doch an Silvester so schön“, schwärmt eine Frau mit Glitzerschal. „Ich hör vielleicht ein bißchen Radio“, erzählt eine andere. Eine Luftschlange hängt ihr um den Hals.

Auf die offiziellen Feierlichkeiten an Brandenburger Tor und Siegessäule angesprochen, herrscht kollektives Gemurre. „Diese Strahler an der Goldelse“, raunzt die 78-jährige Else Krompec, „erinnern mich an den zweiten Weltkrieg. Mit solchen Scheinwerfern wurden die feindlichen Flugzeuge am Himmel gesucht. Und die Knallerei ist wie der Beschuss von Berlin 1945“, findet die mit einer Federboa behängte ehemalige Lastwagenfahrerin.

Das Getöse erspart sie sich, wie alle hier, mit der Vorverlegung der Feier: Likör trinken, zu Cindy & Bert Walzer tanzen und Mitklatschen bei Gassenhauern wie „Kreuzberger Nächte“. Um 17 Uhr servieren dieHelfer der Volkssolidarität das kalte Buffet inklusive Salamiplatte, Obstsalat und Schmalztöpfchen. Eine Stunde später ist die Veranstaltung vorbei.

Kirsten Küppers