piwik no script img

Village VoiceDr. Caligaris Schlafwandler

Bleich geschminkt und traurig: Anton Masie und Morin Smolé gehören zur neuen, lyrischen Generation des Berliner Chansons

Die Chansonszene der Hauptstadt ist jung. Mit den Zwanzigerjahren kann man natürlich allenfalls noch Touristen beglücken, wie auch anders. Die neu etablierten Stars – von Cora Frost über Tanja Ries bis Pigor & Eichhorn – texten meistens selbst und liefern entsprechend Momentaufnahmen von hier und heute.

Noch recht neu, aber mit eigener CD und regelmäßigen Konzerten gleich gut dabei sind der Schauspieler-Sänger Anton Masie und die aus Russland stammende Morin Smolé. Nur ganze drei Lieder lang ist ihre Maxi-CD „Der Grüne Engel“, was eine Viertelstunde lang klirrender, sphärischer Gesang bedeutet, nur von Synthesizer und Klavier begleitet. Melancholie ist garantiert.

Morin Smolé kam 1992 der Liebe wegen von Moskau zuerst in die niedersächsische Provinz und dann nach Berlin. Inzwischen gehört sie zum Ensemble von Andrej Worons Theater am Ufer und ist zum Beispiel in Wolfgang Deichsels „Frankenstein“ zu sehen. In ihren Liedern – die Texte und Kompositionen stammen von ihr selbst – besingt sie das Nicht-zu-Hause-Sein: lyrische Erkundungen eines Zustands der Trauer, Verlassenheit und Sehnsucht. Morin Smolé hat keine Angst vor ausdrucksstarken Metaphern und großen Emotionen und singt davon mit einer zerbrechlichen Stimme, die manchmal an Kate Bush erinnert. Wer Tanja Ries mag oder Mouron, dem wird auch Morin Smolé gefallen.

Smolés Musik funktioniert auch von CD bestens. Ganz anders bei Anton Masie. Dass seine Stimme nicht ganz so weit trägt, stört auf der Bühne nicht: Lang, dürr, bleich geschminkt – die Ärmel des schwarzen Pullis sind viel zu kurz –, erscheint Anton Masie wie der Somnambule aus dem „Cabinett des Dr. Caligari“. Die Platte pur, ohne diese theatralischen Bilder, ist, wie so oft bei Kabarett und Chanson, nur der halbe Genuss, trotz Live-Atmosphäre des Wasserturms Kreuzberg.

Das Repertoire, das sich Masie und seine Pianistin Reinhild Kuhn zusammengestellt haben, ist allerdings zweifellos originell. Gruselig und psychopathisch wie Caligaris Schlafwandler und ganz dem Düsteren, Schaurigen und dem Abgründigen menschlicher Schicksale gewidmet. Gesungen wird von Seiltänzern, die zu Tode stürzen, von Pyromanen und Mördern. Fündig wurde man (dann doch wieder) in den guten alten Zeiten: bei Friedrich Hollaender und Georg Kreisler.

Eine Entdeckung hingegen die sanften Lieder des Russen Wladimir Wyssotzki, und immer wieder schön, makaber und komisch, was der Hannoveraner Friedhelm Kändler liefert. Erfreulicherweise ist der seit einigen Jahren kein Geheimtipp der Kleinkunstszene mehr. Gleichwohl zeigen sich gerade an dessen Chansons die Schwächen Anton Masies. Mit dem warmen Timbre und der ausdrucksstarken sängerischen Interpretation, wie sie Jo van Nelsen mit seiner Kändler-CD gelang, kann er dann doch nur bedingt gleichziehen. Axel Schock

Morin Smolé: „Der grüne Engel“ (zu beziehen über Vielklang Records, Tel. 6 12 60 68)

Anton Masie & Reinhild Kuhn: „Bis aufs Blut“ (zu beziehen über Tel. 44 04 63 45)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen