Moral: die knappste Ressource im deutschen Produktionssystem
: Bananenrepublik auf hohem Niveau

Wer hätte das für möglich gehalten: Deutschland, das Land der Dichter und Denker, droht am Ende dieses Jahrtausends in einer politisch-moralischen Krise zu versinken. Da entpuppt sich ein Bundeskanzler jenseits seiner großen Leistungen als Gesetzesbrecher. Und die 1982 zum Regierungswechsel großspurig verkündete „geistig-moralische Erneuerung“ erscheint als patriarchalisch durchgesetzter Beitrag zum viel beklagten Werteverlust. Dass das Parteienfinanzierungsgesetz als Reaktion auf den vorangegangenen Krupp-Skandal nicht eingehalten wurde, ist schlimm genug. Und allein der Verdacht, Politik sei käuflich geworden, richtet noch mehr Schaden an.

Deutschland eine Bananenrepublik auf hohem Niveau? Die Machenschaften weniger, leider jedoch entscheidender Politiker bedrohen mittlerweile das gesamte politische System. Der Verlust des Vertrauens in die Demokratie schürt eine tiefgreifende Systemkrise. Dabei ist trotz dieser Skandale wichtiger denn je, Politik nicht als „schmutziges Geschäft“ abzuurteilen. Denn das stärkt gefährlich antidemokratische Kräfte. Vielmehr bildet die ethisch begründbare Politik das Nervenzentrum einer zukunftsfähigen Gesellschaft.

Fehlleistungen sind jedoch nicht nur in der Politik zu beobachten. Missmanagement in der Wirtschaft gefährden das Gesamtsystem ebenso. Beinahepleiten wie der Holzmann AG sind dafür bittere Belege. Da ist ein hoch dotiertes Management nicht in der Lage, Risiken früh zu erkennen und zu vermeiden. Vielmehr flüchtet es sich in vielfältige Maßnahmen der Verschleierung, ja Bilanzfälschung. Da sind die Bosse der Deutschland AG in Aufsichtsräten trotz verschärfter Gesetze kaum in der Lage, das Geschehen zu kontrollieren. Bankvertreter im Aufsichtsrat vergeben lieber Kredite ohne Blick auf die Unternehmensrisiken. Und schließlich versagen die teuer bezahlten Wirtschaftsprüfgesellschaften.

Führt diese Inkompetenz schließlich zum Kollaps, dann müssen die Beschäftigten die Zeche mit Lohn- bzw. Arbeitsplatzverlusten bezahlen – obwohl die Lohnbezieher immer brav und korrekt ihre Steuern bezahlt haben. Aus all diesen systembedrohenden Fehlentwicklungen folgt: Deutschland braucht wieder mehr Moral in Wirtschaft und Politik. Das ist die Vision 2000. Moral droht derzeit die knappste Ressource im deutschen Produktionssystem zu werden. Deshalb müssen die korruptionsanfälligen Politiker und Politikerinnen sowie Wirtschaftsbosse zuallererst in einen Bildungsurlaub für Ethik geschickt werden. Ein zweiter Kurs gilt dem Thema, nicht nur Gesetze zu machen, sondern auch Gesetze einzuhalten. Sozialethisches Verhalten ist die Basis der politischen und wirtschaftlichen Demokratie, die das Grundgesetz zu Recht will.

Aber Verhaltensänderungen allein reichen nicht. Auch die ökonomischen Verhältnisse müssen reformiert wird. Denn es fehlt schlichtweg an konsequenter Kontrolle und Wirtschaftsdemokratie. Wachsende Konzentration von Wirtschaftsmacht auf Wenige lässt eine Gemeinwohlorientierung kaum noch zu. Um als Politiker käuflich zu werden, muss es Käufer in der Wirtschaft geben. So altbacken das klingen mag, dem Gemeinwohl muss gegen konkurrierende Wirtschaftsinteressen wieder Platz geschaffen werden. Dazu gehört die stärkere Kontrolle wirtschaftlichen Geschehens nicht nur im Inland, sondern auch innerhalb der EU. Erst mit der Stärkung des Gemeinwohls rückt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wieder in den Mittelpunkt.

Auch mehr soziale Gerechtigkeit gehört zu dieser Vision. Es ist doch mehr als peinlich, wenn die relativ stärkere Besteuerung sowie deren Kontrolle bei den Vermögenden gefordert wird, von der Neidkampagne gegenüber den Reichen zu faseln. Ist es nicht eher der Geiz der Besitzenden, der hier durchschlägt? Gemeinwohlorientierung muss aber auch der Natur gelten – denn deren Ausbeutung zum Nulltarif rächt sich – leider erst viel später – durch Naturkatastrophen und Umweltkrisen. Moralisch fundierte Politik und Wirtschaft sollten dem visionären Dreigestirn dienen: Arbeit, Umwelt, soziale Gerechtigkeit. Ein Gesellschaft, die die Kraft zu dieser Vision nicht aufbringt, ist, trotz materiellen Wohlstands, arm an Zukunftsfähigkeit. Rudolf Hickel

Professor für Finanzwissenschaft, Uni Bremen