Die Halle der Verzweifelten

Über Kasernenhofdrill und gesunde Weiber, Flüchtlingselend und zwei Busbahnhöfe: Die Geschichte der Jahn-Halle hinterm Hauptbahnhof  ■ Von Bernhard Röhl

Der 16. Dezember 1888 war für die „Hamburger Turnerschaft von 1816“ ein festliches Datum. Der älteste Turnverein der Welt weihte an diesem Tag die Jahn-Halle in der Großen Allee ein. Damals ahnte noch niemand, welches Schicksal diesem Gebäude bevorstand und dass der historische Straßenname am 1. Oktober 1971 verschwinden sollte. Die 1652 angelegte Allee musste durch Senatsbeschluss den Namen Adenauers annehmen.

Vor 111 Jahren stand die Skulptur des „Turnvaters Jahn“ über dem Eingang des zweigeschossigen Gebäudes, umgeben von zwei weiteren Figuren. Der Name des Vereins – der zunächst eine Männerdomäne war, um die späteren Rekruten auf den Kasernenhofdrill vorzubereiten – prangte in großen Buchstaben über den Statuen.

Der Vereinsbericht von 1887/88 legte dar, weshalb ab 1888 Mädchen ebenfalls turnen durften: „...auch vom nationalen Standpunkt aus betrachtet, ist die Kraft und die Gesundheit des Weibes von unbeschreiblicher Wichtigkeit, denn die Kraft und die Gesundheit des ganzen nachwachsenden Geschlechts ist bedingt durch die Kraft und die Gesundheit des Weibes. Von körperlicher Kraft, Tüchtigkeit und Schönheit eines Volkes kann nicht gesprochen werden, solange wir keine gesunden, kraftvollen Mütter haben. ... Daß bei den Uebungen die Oeffentlichkeit ausgeschlossen wird, ist selbstverständlich.“

Nur der Turnlehrer durfte zusehen, wie sich „die Weiber“ darum bemühten, kraftvolle Mütter zu werden, die Jungen für den ersten Weltkrieg gebären sollten, denn schließlich brauchte der Kaiser Soldaten und Arbeitskräfte.

In seinen Erinnerungen unter dem Titel „Im Schatten der Sy-nagoge“ berichtet der Maler und Schriftsteller Arie Goral-Sternheim, er habe „ein starker Jude“ werden wollen, denn auch unter Lehrern und Schülern der „Realschule vor dem Lübeckertor“ grassierte damals der rabiate Antisemitismus. „Eine Zeitlang turnte ich bei der Turnerschaft von 1816, die in der Großen Allee, auf dem Platz, der jetzt vom Autobus-Bahnhof eingenommen wird, ihre große Turnhalle hatte. ... Ich war der Jüngste und Kleinste in einer Jugendriege. Das Turnen machte mir aber überhaupt keinen Spaß. ... Zudem herrschte in der Turnhalle und in der Riege ein unerträglicher Kommandierton. Auch das Lied, mit dem jedes Turnen begann und abschloss, ,Turner auf zum Streite/ tretet in die Bahn/ Kraft und Mut geleite/ euch zum Sieg hinan!' war mir zuwider“, bekannte der Autor.

In der Nazi-Diktatur diente die Jahn-Halle als Musterungsstätte, um auch frühere Turner für die Wehrmacht zu rekrutieren. Ältere Jahrgänge – die den ersten Weltkrieg der Krupp und Hohenzollern überlebt hatten – kamen mit einer Dienstverpflichtung davon, so beispielsweise für die Kriegsrüstungsfabrik in Malchow in Mecklenburg; in den unterirdischen Anlagen mussten auch Zwangsarbeiter schuften.

Bei den Bombardierungen Hamburgs durch britische Flugzeuge im Juli 1943 wurde auch die Jahn-Halle beschädigt. Nach den Luftangriffen sank die Einwohnerzahl auf 900.000, bereits 1946 aber hatte sie sich wieder auf 1,403 Millionen erhöht und wuchs beständig weiter. Viele Flüchtlinge, ausgebombte Hamburger Familien („Butenhamborger“), untergetauchte oder aus der Kriegsgefangenschaft entlassene Soldaten drängten sich in der zerstörten Stadt zusammen.

Eine „Soziale Arbeitsgemeinschaft“ – die aus verschiedenen Organisationen und Behördenvertretern bestand – sollte dafür sorgen, die Obdachlosen unterzubringen. Der Nazi-Senator Oskar Martini, von der britischen Besatzungsmacht bis Oktober 1945 im Amt belassen, leitete diese Arbeitsgemeinschaft. Die Sozialverwaltung befand sich damals im Bieberhaus, dort übernachteten im Sommer 1945 nachts 500 bis 700 Menschen auf Treppenstufen oder in Büroräumen. So kam die Idee auf, die Jahn-Halle zu reparieren, um die Wohnungslosen in der Nähe des Hauptbahnhofes unterzubringen. Die britische Besatzungsmacht half mit Baumaterial, daher konnte die frühere Turnhalle in der Nacht vom 19. auf den 20. Juli noch vor Fertigstellung belegt werden.

Die beiden Hallen im Erdgeschoss der Jahn-Halle waren für Familien mit Kindern und für Männer bestimmt, die allein reisten. Im ersten Stock gab es Unterkünfte für Mütter mit kleinen Kindern, Kriegsbeschädigte sowie jeweils einen Raum für männliche und weibliche Jugendliche. Bettgestelle standen nur in den Räumen für Mütter mit Kleinkindern, für Jugendliche und Kriegsbeschädigte. Für die übrigen Obdachlosen gab es lediglich Schlafplätze im Sitzen.

Ursprünglich sollten 400 Menschen nachts in der Jahn-Halle eine primitive Unterkunft finden, es kamen jedoch 1000 bis 1500 Frauen, Kinder und Männer. Der frühere Luftschutzraum im benachbarten Museum für Kunst und Gewerbe wurde ebenfalls als Notunterkunft geöffnet. In der einstigen Turnhalle standen für die vielen Obdachlosen lediglich 50 Wasserhähne bereit, die Toiletten waren oft verstopft. Wegen dieser menschenunwürdigen Lebensbedingungen bestand die Gefahr von Epidemien.

Die Sozialverwaltung diskutierte darüber, ob es sinnvoll sei, die Obdachlosen „gut“ zu versorgen und zu betreuen. Angesichts der immensen Verelendung fürchteten verschiedene Leute, diese Opfer des Krieges könnten für die „innere Sicherheit“ gefährlich sein, die „Menschenmasse“ könnte auf die Idee kommen, sich zu radikalisieren. Eine „gute Betreuung“ sollte die verelendeten Massen ruhig stellen: Die Wohnungslosen bekamen 200 Gramm Brot mit 50 Gramm Wurst und 10 Gramm Fett.

Dr. Käthe Petersen, seit der NS-Zeit Senatsrätin in der Sozialverwaltung, erblickte darin „eine Gefahr“. Sie befürchtete angesichts der Hungersnot, dass viele Menschen wegen der belegten Brotes in die Jahnhalle kommen würden. Der frühere NS-Senator Martini widersprach zunächst: Flüchtlinge und Obdachlose „reisten“ unter schweren Bedingungen, deshalb sei es ihnen nicht zuzumuten, auf die Brotration zu verzichten. Als Mitverantwortlicher des braunen Regimes fürchtete er auch, die verweigerte Verpflegung könne die Gefahr „einer Störung der öffentlichen Ordnung“ vergrößern.

Die Sozialverwaltung fand einen faulen Kompromiss: Die zur Übernachtung in der Jahnhalle gezwungenen Menschen erhielten lediglich trockenes Brot und Mischkaffee. Wo mag damals die eingesparte Wurst und das entzogene Fett geblieben sein?

In den ersten Jahren nach dem Kriegsende trafen auch „unerwünschte Deutsche“ auf Schiffen im Hamburger Hafen ein. Es handelte sich meistens um wohlhabende Leute wie Ingenieure, Lehrer, Kaufleute, Ärzte oder Missionare, die aus Afrika, Griechenland, Island, Java und anderen Staaten ausgewiesen wurden. Die britische Militärregierung schickte diese Leute zunächst in das frühere KZ Neuengamme, um sie politisch zu überprüfen. Wer von dort entlassen wurde, kam anschließend in die Jahnhalle, um von der Übernachtungsstätte in festgelegte Aufnahmegebiete gebracht zu werden. Dieser Personenkreis hatte teilweise bis zu 20 Jahren im Ausland gelebt, die meisten von ihnen wollten so rasch wie möglich wieder auswandern.

Nach Gründung der Bundesrepublik galt die Jahnhalle in den Wirtschaftswunderjahren als „Schandfleck“ für das „wieder schön gewordene Hamburg“. Im Januar 1950 erschien im SPD-Blatt Hamburger Echo unter dem Titel „Die Halle der Verzweifelten“ der erste von vielen Berichten über die katastrophalen Verhältnisse in der früheren Turnhalle in St. Georg.

Ende 1950 begannen die Arbeiten für den Bau des Zentralomnibusbahnhofs (ZOB) an der Großen Allee, der ersten Anlage dieser Art in der Bundesrepublik. Die Architekten Sprotte & Neve entwarfen die Planung dafür. Im Jahre 1951 war der ZOB vollendet. Die Jahnhalle, Zeugin des menschlichen Elends,wurde abgerissen.

Noch in diesem Jahr wird die Baubehörde die Planungen für einen neuen ZOB vorstellen. Der alte gilt nach knapp 50 Jahren als Schandfleck für das schöne Hamburg.