Vom Theater zur Welt und zurück

Das Deutsche Schauspielhaus verarbeitet in einem insgesamt sehr gelungenen Buch seinen Jahrhundertgeburtstag – und blickt fröhlich-pessimistisch in die Zukunft  ■ Von Ralf Poerschke

Ein Buch zur 100-jährigen Geschichte von Deutschlands größter Sprechbühne ist kein leichtes Unterfangen, wenn es als großer Wurf daherkommen, umfassend sein und seinem Gegenstand inhaltlich wie ästhetisch auch nur halbwegs gerecht werden will; Theater möchte ja stets Welt mitbedeuten, zu der Hamburg immerhin als Tor sich stilisiert, und das vergangene Jahrhundert war nun einmal relativ komplex. Dem Deutschen Schauspielhaus ist es unter Mitherausgeberschaft des Zentrums für Theaterforschung der Universität Hamburg nun mit einiger Bravour gelungen, seine eigene Geschichte adäquat zwischen zwei Buchdeckel zu bannen und den Rest der Welt dabei nicht aus den Augen zu verlieren. 100 Jahre Deutsches Schauspielhaus in Hamburg heißt der 320 Seiten starke, bei Dölling und Galitz erschienene DIN-A4-Band, der flankiert wird von einer datenbepackten CD-Rom, und stellt tatsächlich einen – mit wenigen Einschränkungen – großen Wurf dar.

Der erste Teil ist historisch-chronologischer Natur und insofern eine Pflichtübung. Die Autorinnen Michaela Giesing und Barbara Müller-Wesemann, beide wissenschaftliche Mitarbeiterinnen des Theaterforschungs-Zentrums, gehen nach repräsentativen Zeitabschnitten vor (nur Gustaf Gründgens, Ivan Nagel und Frank Baumbauer waren so lange und nachhaltig Intendant, dass hier eigene Kapitel nötig wurden) und mit der gebotenen Objektivität zu Sache, ohne je in einen staatstheatertragenden Ton zu fallen. So ist es bezeichnend, dass unter dem Titel „Vollendete Restauration“ die Ära Gründgens (1955-1963) beileibe nicht so gut wegkommt, wie es so mancher vielleicht gerne gesehen hätte: „Unter Berufung auf die andere, die bessere Tradition, mit der man unbeirrt Topoi der konservativen Kulturkritik fortschrieb, wurde eine kulturelle Identität beschworen, die aus der Verdrängung und Kompensierung der jüngsten Geschichte ihre Energien bezog“, stellt Giesing klar und konstatiert kühl eine „Verarmung“, einen „Verlust an Welthaltigkeit einer Kunst, die, nurmehr mit sich selbst beschäftigt, Gegenwart und Geschichte, Fragen an diese und an die Rolle der Künstler in ihr ausschloß“.

Aus dem Rahmen fällt allerdings bedauerlicherweise und ausgerechnet das Kapitel „Staatliches Schauspielhaus 1932-1945“, mit dem wohl nur deswegen Jutta Gutzeit beauftragt wurde, weil sie ihre Promotion dem Hamburger Theater in der Zeit des Nationalsozialismus gewidmet hat. Und gerade aus diesem Grund scheint es verwunderlich, dass dermaßen viele Fragen nach der – anscheinend politisch recht aktiven – Rolle des Intendanten Karl Wüstenhagen offen bleiben. Die Autorin rettet sich in teils wenig aussagekräftige Faktendarbietung. Zur Funktion des Theaters im faschistischen Propagandaapparat äußert sie sich so gut wie gar nicht.

Gestalterisch besticht der historische Teil durch Konsequenz: An die gänzlich fotofreien Textpartien schließen sich jeweils Fotostrecken an, die mit Zitaten sowie Auszügen aus Briefen und Presseartikeln kommentiert werden. Und auf diesen Seiten kommt dann auch die Welt ins Spiel: Sozusagen als grauer Faden sich durchziehend, geraten – meist politische – Ereignisse als Kürzestmeldungen ins Blickfeld, immer mit Jahreszahl gekennzeichnet, die interessante Korrespondenzen oder auch mal hübsche Kontraste bieten. Dazugestellt sind auf helle Grauwerte reduzierte Fotos mit markanten Motiven – Schützengraben, Kapitulation, Studentendemo oder Dolly-Schaf –, die weitere Parallelen eröffnen.

Im Exkurs-Teil hebt dann die Kür an – obwohl auch hier bei der Themenauswahl in Richtung Vollständigkeit zumindest grob gezielt wird. Michaela Giesing handelt vielleicht ein wenig zu trocken die architekturgeschichtlichen Aspekte ab, und Werner Schulze-Reimpells Aufsatz zum Thema „Zeitgenössische Stücke im Spielplan“ verliert sich ein wenig zu sehr in Aufzählerei. Inhaltlich dafür umso tiefer schürft der Berliner Stadtplanungsexperte Dieter Hoffmann-Axthelm in seinem Beitrag zum „Stadt-Theater“. Von der Aufklärung bis zum Kosovo-Krieg spannt er mühelos den historischen Bogen in seiner ebenso klugen wie sprachlich versierten Analyse eines buchstäblich spannenden Verhältnisses.

Dem Komplex Bühnenbild widmet sich Manfred Brauneck, seines Zeichens Leiter des Hamburger Zentrums für Theaterforschung, äußerst kenntnisreich; die Chefdramaturgin des Landestheaters Tübingen, Silke Koneffke, schlägt die Brücke zu anderen Auffüh-rungsorten, vom Malersaal über das Ausweichquartier Kampnagel bis zu den Exkursionen eines Christoph Schlingensief; und Abendblatt-Redakteurin (sowie Ex-Kulturbehördensprecherin) Armgard Seegers erzählt die „Geschichte der Finanzkrisen“ voller scharfer Spitzen gegen die ewig kulturfeindlichen Politiker dieser Stadt (wenngleich das etwas müßig erscheint, da in Sachen Geld seit Jahren hüben wie drüben keine neuen Argumente in Sicht sind).

In den Bereich der Prosa geraten die beiden letzten Texte des Buches. Martin Pees ist mit 29 der jüngste der verpflichteten Autoren, seit 1995 Dramaturg an Frank Castorfs Volksbühne, und seine einem ironischen Psychogramm sich nähernde vergleichende Betrachtung der Schauspieler Gustaf Gründgens, Ulrich Wildgruber und Josef Bierbichler ist durchaus originell und alles andere als dumm. Für Matthias Geffraths Schlusskapitel gilt selbiges hoch zwei. Der Soziologe, Publizist und Ex-Wochenpost-Chef entwirft das Szenario eines Theaterbrandes am 15. August 2000. Das halbe Schauspielhaus-Personal darf man hier mit wenig Mühe wiedererkennen, und Geff-rath legt den Protagonisten Thesen, Einschätzungen und Feststellungen gleichsam in den Mund zurück, die er ihnen während Gesprächen ins Blaue hinein abluchsen konnte. Diese fröhlich-pessimistische Montage am Ende des subventionierten Theaters ist vielleicht näher dran an der Wirklichkeit, als man wahrhaben mag. Aber genau das ist eben auch Theater, und noch können wir ja darüber lachen.

„100 Jahre Deutsches Schauspielhaus in Hamburg“, Dölling und Galitz, Hamburg 1999, 320 Seiten, 400 Schwarzweiß-Abbildungen, 68 Mark (im Buchhandel, mit CD-Rom 98 Mark, im Schauspielhaus 68 Mark (mit CD-Rom)