Landluft

Im Januar widmet sich die Reihe Dawai – Russisches Kino im Abaton dem Landleben der Post-Stalin-Ära  ■ Von Jörg Taszman

Die ambitionierte Filmreihe „Russisches Kino“ im Abaton ist im Dorf angekommen. Aber es sind nicht die lustigen Traktoristen, tanzenden Mähdrescher und singenden Bäuerinnen aus dem Propagandamusicals der Stalinzeit, sondern poetisch angehauchte realistische Fabeln der 70er und 80er Jahre, alle entstanden in der Breschnew-Ära, einer Zeit der Stagnation.

Herausragendes Beispiel ist einer der populärsten sowjetischen Kultfilme: Kalina Krasnaja/Roter Holunder von 1973. Inszeniert vom Schauspieler, Dichter und Regisseur Wassilij Schukschin schockte der Film seiner Zeit wegen des von Schukschin gespielten Anti-Helden Jegor Prokudin. Dieser Kleinkriminelle, Dieb und Wiederho-lungstäter kommt nach 5 Jahren Gefängnis frei. Weil ihn keiner aufnehmen will, begibt er sich auf die Reise in das Dorf von Ljuba, mit der er sich vom Knast aus Briefe schrieb. Dort angekommen stellt er sich im Dorf als Buchhalter vor, der wegen der Machenschaften seines Vorgesetzten unschuldig verurteilt wurde. Aber die misstrauischen Dorfbewohner mögen naiv, traditionell und weltfremd sein, seinen Notlügen glauben sie nicht.

Dass Jegor nicht gerade aus der intelligentsja stammt, ist eindeutig. Schukschin selbst verkörpert mit herbem, männlichen Charme diesen kernigen, harten Kerl, hinter dessen „rauher Schale“ sich ein „guter Mensch“ verbirgt. Aber es geht in Kalina Krassnja nicht um die Läuterung durch die sozialistische Gesellschaft. Die Dorfgemeinschaft zeichnet Schukschin liebevoll traditionellen Werten verhaftet, aber auch voller Vorurteile und weltfremd. Erst als Ex-Kumpane von Jegor im Dorf aufkreuzen und ihm sein „normales“ Leben als Traktorist nicht abnehmen wollen, taucht die Welt von außerhalb auf. In einem Birkenhain, auf einer weiten Wiesenlandschaft kommt es dann zum typisch russischen Tragic-End, und Jegor – genannt „Pechkopf“ – macht seinem Spitznamen alle Ehre.

Da wo es bei Schukschin noch holprige Zooms und ruckelnde Schwenks gibt, zelebriert Elem Klimov in Abschied von Matjora die Natur. Der Regisseur und ehemalige Vorsitzende des sowjetischen Filmverbandes während der Perestrojka-Zeit bebildert eindrucksvoll den Untergang einer kleinen Insel. Matjora und seine Dorfbewohner müssen einem Stausee weichen. Die Kinder werden als erste evakuiert und sagen in Festkleidung brav Lebewohl. Dann folgen die Familien und die Alten. Um die spätere Flussfahrt nicht zu beeinträchtigen, sind die Bauern gezwungen, ihre eigenen Holzhäuser anzuzünden. Den Fortschritt verkörpern in Plastikumhänge gehüllte Arbeiter, die den Kriminellen aus Kalina Krasnaja verdächtig ähnlich sehen. Ein kalter, inhumaner Beamter vollzieht die Umsiedlung.

Klimov ist parteiisch. Er lässt die Bilder sprechen. Da ist der mächtige Baum, der sich nicht fällen lässt und auch den Flammen widersteht; dagegen stellt er die kalten, unfertigen Betonhäuser auf dem rasch urbanisierten Festland. Vor dem großen Finale findet noch das letzte Erntedankfest statt, danach wird es fast opernhaft, wenn die Holzhäuser in Flammen aufgehen und die Einwohner Matjoras ihr Dorf verlassen. Der Film lag in der UdSSR jahrelang auf Eis, war ursprünglich von Klimovs Frau Larissa Schepitko konzipiert und wurde nach ihrem tragischen Tod 1979 zwei Jahre später von Klimov beendet. Später lief er kurze Zeit in einigen Moskauer Vorortkinos und unterlag einem Exportverbot. Erst 1987 wurde er im Westen auf der Berlinale gezeigt und gelangte sogar regulär in die deutschen Kinos in Ost und West.

Der dritte Film, der unter dem Motto „Russische Dorfprosa“ zu sehen sein wird, ist die Verfilmung des Romans Der weiße Dampfer von Tschingis Aitmatov. Hier geht es um einen kleinen Jungen im fernen Kirgisien, der von seinem Großvater in die Geheimnisse der Natur eingeführt wird. Beim Wiedersehen dieser Filme oder ihrer Entdeckung schwingt ein wenig Wehmut mit. Seit der politischen Wende in Russland fehlen ähnlich kraftvolle und poetische Werke.

Roter Holunder: Sa 8. , 13.15 Uhr + So 9., 11 Uhr + Mo 10. , 17.30 Uhr + Di 11. Januar, 17.30 Uhr

Abschied von Matjora: Sa, 15. , 13.15 Uhr + So, 16. , 11 Uhr + Mo, 17. , 17.30 Uhr + Di, 18. Januar, 17.30 Uhr;

Der Weiße Dampfer: Sa, 22., 13.15 Uhr + So 23. , 17.30 Uhr + Di 25. Januar, 17.30 Uhr,

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