Dessau, Stadt der Zukunft und Verkehrsmodell

Der Anteil der Autofahrer am Stadtverkehr soll in fünf Jahren um zwei Drittel gesenkt werden ■ Aus Dessau Katharina Koufen

Dessau war die Fahrradstadt des Ostens. Seit der Wende sank der Anteil der Radfahrer am Verkehr von 40 auf 25 %

Der Dessauer Bahnhof an einem Sonntagmittag: Ein junger Mann, das Mountainbike geschultert, läuft quer über den Bahnsteig in Richtung eines wartenden Zugs. Zwei Radfahrerinnen schieben ihr Fahrrad samt vollbepackten Fahrradtaschen eine schmale Schiene neben der Treppe hinauf zur Eingangshalle. Dort wirbt eine Tafel für eine Besichtigung des neuen Umweltbundesamts, das ab nächstem Jahr seinen Sitz in Dessau haben wird. Ein Plakat neben dem Aufgang zu Gleis 2 kündigt den „nächsten Höhepunkt in der Marienkirche“ an: Eine Eröffnungsveranstaltung zum Schulwettbewerb „Energiesparen in Schulen“. Daneben hängt eine Einladung des Dessauer Amtes für Umwelt und Naturschutz zu einer Diskussionsrunde. Thema: „Luftschadstoffe in Dessau und der Treibhauseffekt“.

Wer in der kleinen Stadt an der Elbe ankommt, soll wissen: Dessau ist mehr als nur das Bauhaus der 20er-Jahre und die Wiege berühmter Architekten. Dessau ist auch eine „Stadt der Zukunft“ – eine von vier deutschen Modellstädten, die am Forschungsprojekt „Städte der Zukunft“ des Bundesverkehrsministeriums teilnehmen.

Neben Dessau testen Münster, Güstrow und Heidelberg zur Zeit „Strategien für den Städtebau im 21. Jahrhundert“. Dazu zählen die Projektplaner den sparsamen Umgang mit neuen Siedlungsflächen, die Sanierung und Nutzung von vorhandenen Gebäuden statt Neubauten, die Reduzierung der Luftschadstoffe durch weniger Autoverkehr, weniger Müll sowie die verstärkte Nutzung von regenerativen Energien. Insgesamt rund 12 Millionen Mark spendiert die Bundesregierung den „Städten der Zukunft“ für die Durchführung .

Fünf Jahre lang stehen die vier Städte Modell, dann sollen Ergebnisse vorgelegt werden. In der Zwischenzeit tauschen die Beteiligten ihre Erfahrungen in „Zukunftswerkstätten“ aus, die dreimal im Jahr in einer der Städte stattfinden. Interessierte Fachleute können sich auf öffentlichen „Zukunftsforen“ über den Stand der Dinge informieren. Außerdem hat das Verkehrsministerium den internationalen Verband umweltengagierter Städte Iclei mit Vergleichsstudien im Ausland beauftragt.

„Ich beobachte die Entwicklung von Edinburgh, Graz, Göteborg, dem dänischen Ålborg und dem holländischen Tilburg“, sagt Iclei-Vorsitzende Monika Zimmermann. „Dessau beispielsweise kann sich an Tilburgs Fahrradkultur ein Vorbild nehmen oder auch an einer Edinburgher Initiative, bei der Unternehmen ihre Mitabeiter und Kunden dazu anhalten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln anzureisen.“

Denn: „In Dessau stehen alternative Verkehrskonzepte im Mittelpunkt“, erläutert Annette Janßen von der Kasseler „Planungsgruppe Nord“ – der Stadt- und Verkehrsplanungsgesellschaft, die vom Ministerium mit Projektentwürfen für Dessau beauftragt worden ist. Herzstück dieses Konzepts ist die Mobilitätszentrale – ein grün gestrichenes Gebäude, das aussieht wie ein Pilz und auf dem Bahnhofvorplatz steht.

Ganz unbescheiden hat man sich in Dessau vorgenommen, den Anteil der Autofahrten am Stadtverkehr in fünf Jahren um ein Drittel zu senken. Die Dessauer sollen umsteigen in Busse und Straßenbahnen oder aufs Rad. Dafür werben die Mitarbeiter der städtischen Verkehrsbetriebe, die sich im grünen Pilz ein Büro eingerichtet haben. „Wir wollen die Stadt attraktiver gestalten und nachhaltig lebenswert machen“, sagt Peter Arndt, der Leiter der Mobilitätszentrale. Er und seine drei Kollegen verkaufen Fahrscheine und Konzertkarten, weisen die Konzertbesucher beim Verkauf auch auf die günstigste Bahn- oder Busverbindung oder auf die Möglichkeit des „Bike and Ride“ hin, verleihen Fahrräder für 8 Mark am Tag und legen Broschüren mit den schönsten Radwegen Sachsen-Anhalts oder mit den neuesten Sonderangeboten der Deutschen Bahn noch gratis drauf.

Seit der Wende ist der Anteil der Fahrradfahrer am Verkehr von 40 Prozent zu DDR-Zeiten auf rund 25 Prozent heute gesunken. Arndt nennt den Grund: „Wenn man, wie in der DDR, zehn bis fünfzehn Jahre auf ein Auto warten muss, fährt man freiwillig Fahrrad.“ Eine seiner Kundinnen, Michaela Zipper, die „schon immer“ in Dessau gewohnt hat und von ihrem Sonntagsausflug zurückradelt, fügt hinzu: „Die kurzen Wege innerhalb der Stadt machen das Fahrrad zum idealen Verkehrsmittel, ich brauche mein Auto in der Stadt fast überhaupt nicht.“ Tatsächlich seien mehr als die Hälfte aller zurückgelegten Strecken kürzer als drei Kilometer, sagt Arndt.

Die öffentlichen Verkehrsmittel haben noch mehr als das Fahrrad unter dem Autoboom der Nachwendezeit gelitten: Busse und Bahnen machen nur noch 6 Prozent des Stadtverkehrs aus. „Ein Imageproblem“, meint Arndt. Da haben auch die schicken neuen Straßenbahnen bis jetzt nicht geholfen, genau so wenig wie der niedrige Preis von 80 Pfennig für eine Straßenbahnfahrt. „Gut wären neue Fahrradwege – die alten sind teilweise sehr holprig“, sagt die junge Frau. Doch dafür will die Stadt kein Geld ausgeben – die Instandhaltung wäre zu teurer.

Ob die Mobilitätszentrale was bringt? Zipper überlegt. „Ja, als Infostelle für die Bahnkunden vielleicht. Aber für uns Dessauer Radfahrer weniger. So ein Fahrradverleih oder Broschüren über die schönsten Radtouren ist doch eher was für Touristen.“

Dessau ist eine „Stadt der Zukunft“ – oder wäre es zumindest gerne. Denn die scheint in Sachsen-Anhalts kleiner Stadt an der Elbe getrübt zu sein: Seit der Wende ist die Bevölkerung von 103.000 auf 85.000 Menschen geschrumpft. So löblich die Verkehrsinitiative ist – über die vielen verlassenen und verfallenden Häuser, über 25 Prozent Arbeitslosigkeit können auch die schönsten neu glänzenden Straßenbahnen nicht hinwegtäuschen.