Wo der Turban bitter blüht

Folge 1 der neuen Reihe „Wahre Lokale“: das Taj Mahal

Einem Abend in Harmonie stand nichts entgegen. Das Fleisch bröckelte eine Idee zu mürbe, geradezu morsch in der Pfanne

„Güte“ war das erste Substantiv, das mir einfiel. Beim Anblick von Rajinder Singh, dem Inhaber und geistigen Zentrum des Lokales Taj Mahal. „Güte“ und „Höhensonne“. Natürlich Quatsch. Herr Singh hieß nicht nur „Inder“, er war auch einer. Olivbraune Haut, dunkle Kohleaugen hinter einer gefällig blitzenden Brille, ein dichter, das Gesicht wie gleichmäßig wucherndes Moos bedeckender Bart. Und über all dem blühte ein filigran geknoteter Turban. Oh fremde Welt, oh fremdes Asien. Trotzdem fühlten wir uns – Hilde und ich – sofort daheim. Kaum dass wir über die etwas zu hohe Türschwelle des Lokals Taj Mahal gestolpert waren. Denn obwohl er uns nie gesehen hatte, begrüßte uns Herr Singh wie alte Freunde. Schlug sogar herzhaft und eigentlich völlig unmotiviert auf ein winziges Trömmelchen ein, wobei er erstaunlicherweise keinerlei Talent an den Tag legte. Eine Tatsache, die ihm offenbar bekannt war, denn er trommelte nur kurz, faltete dann die Hände wie ein oberbayrischer Ministrant und wedelte uns fürsorglich an einen Tisch seiner Wahl.

Für einen Moment wären wir gerne woanders gesessen, aber er zerstreute unseren kleinlichen Einwand mit einer entschiedenen Geste: „Es ist schon alles gut so“, hieß das. Er hatte natürlich Recht, und ein strahlendes Lächeln belohnte unsere Einsicht. Beneidenswert schöne Menschen, diese Inder. Eine Schönheit, die sich nicht nur an vergänglichen Äußerlichkeiten festmacht – ein sanftes Feuer scheint sie von innen zu erwärmen. Nichts von all der Kälte und Starrheit, die den Europäer lähmt.

Hilde nickte mir zu, wir waren uns schweigend einig. Obwohl ich Hilde noch nicht allzu lange kannte, spürte ich immer mehr die uns verbindende Seelenverwandtschaft. Unsere Vorliebe für das Faltbootfahren, unsere Begeisterung für die asiatische Küche. Hilde besaß einen Wok. Wir fassten uns an den Händen. Wir sahen uns eine lange Weile an. Hilde und ich. Und Herr Singh. „Augenblick verweile, du bist so schön“ – so oder so ähnlich spricht der Dichter. Dann sprach Herr Singh: „Wollen Sie nun endlich bestellen?“

Hilde neigte das Haupt wie ein verwunderter Dobermann, und auch ich stutzte einen Moment ob des strengen Untertones. Da brach sich wiederum ein strahlendes Lächeln Bahn zwischen den leuchtend weißen Zähnen. Ach so! Ein Scherz! Goldener Humor Asiens.

Ich verneigte mich vor Begeisterung, und Hilde patschte sanft mit der Handfläche auf den Tisch. Wir verbargen uns kichernd, gehorsame Kinder mimend, hinter der Speisekarte, während der köstliche Rajinder uns schalkhaft mit dem reichlich beringten Finger drohte und dann zum Nebentisch schritt, wo er die lahm in der Karte blätternden Gäste zur Eile antrieb. Ich hatte mich schnell entschlossen. Vielleicht etwas mit Spinat. Kein Fleisch. Inder essen kein Fleisch, das weiß doch jeder. Wegen der Kühe. Ich berührte Hildes Hand: „Spinat?“ Sie strahlte. „Ach du ...!“ Wir tauchten unsere Blicke lange ineinander, bis ein sachliches „Und nun?“ uns trennte. Es war der goldige Herr Singh.

Ich deutete mit gemessener Handbewegung auf Hilde. Auch sie spürte die Bedeutung des Augenblickes und bestellte mit leiser, getragener Stimme: „Dieses interessante Spinatgericht bitte.“

Herr Singh neigte betrübt das Haupt. „Nummer 64“, sagte ich rasch, um Missverständnissen vorzubeugen. Der Turban wackelte streng: „Spinat ist aus. Nehmen Sie das Rindfleisch mit Tomaten.“ Rindfleisch? Wir sahen uns etwas ratlos an. „Oder Huhn?“, hauchte ich. Der goldige Inhaber des Lokales Taj Mahal stemmte die Fäuste in die Hüfte – immer noch lächelnd, doch irgendwie gebrach es dem samtbraunen Mienenspiel nun an jeglicher Sanftheit.

Rasch legte ich den Finger an die Nase und flötete feige: „Au ja.“ Als hätte ich mich überraschend und in Sekundenschnelle eines Besseren besonnen. Der Herr des Lokales Taj Mahal traute dem Frieden noch nicht. Er kräuselte misstrauisch die Brauen und machte ein beleidigtes Doppelkinn. „Sie müssen nicht“, knarzte er mit bitterem Lächeln, die kohledunklen Augen ohne Hoffnung zur Decke richtend. „Ich kann Ihnen auch Huhn machen.“ Dabei sprach er „Huhn“ wie „eiterndes Gaumenekzem“ aus.

Entschlossen verschränkte ich die Arme vor der Brust: „Rindfleisch mit Tomaten.“ Nach kurzem Zögern verzieh mir Herr Singh, er spitzte sogar wohlwollend die Lippen. Dann nickte er mir anerkennend zu, als hätte ich soeben den Wunsch verkündet, Missionar in der Leprakolonie zu werden. Hilde sagte: „Na also“, und wir waren wieder Freunde. Alles im Lot, ich hatte meine Lektion jedenfalls gelernt, und bei der Wahl der Getränke ließ ich unserem Gastgeber völlig freie Hand.

So stand einem Abend in völliger Harmonie eigentlich nichts mehr im Wege. Obwohl das Fleisch eine Idee zu mürbe war, eigentlich geradezu morsch in der Pfanne bröckelte und die Meute am Nebentisch den Maitre zum Seufzen brachte, weil sie auf Fisch bestand. Hilde musste sogar den Kopf schütteln angesichts solchen Eigensinns. Da waren wir schon aus anderem Holz geschnitzt. Verzehrten klaglos unser Rindfleisch in Mandelsoße (Tomaten waren aus) und beklatschten emphatisch die immer wieder aufbrandenden Trommelsolos.

Zum Lohn zeigte uns Herr Singh seine original indischen Schnabelschuhe und ließ per Zaubertrick Papierkügelchen verschwinden. Beim Anblick der Rechnung hätte ich mir für einen egoistischen Moment ähnliches gewünscht, traute mich aber nicht, einen entsprechenden Scherz abzusondern, denn: Nur allzu schnell verdorrt das zarte Pflänzchen Freundschaft.

Und Freunde waren wir ohne Zweifel geworden, an diesem Abend. Der sich ein ums andere Mal sanft verneigende Herr Rajinder Singh, Hilde und ich. Die wir unter Lächeln und Winken, Winken und Lächeln über die etwas zu hohe Türschwelle des Lokales Taj Mahal ins Freie stolperten.

Albert Hefele