Malaria Drums oder Die Magie eines Kontinents

Wirklich fremd ist nur der Ort, der das vermeintlich Eigene nachhaltig in Frage stellt.Die Reise dorthin ist schmerzhaft und lohnend. Denn von solchen Orten kehrt der Reisende als ein anderer zurück ■ Von Andreas Kirchgäßner

Draußen die Trommeln. Mal klingen sie nur wie leises Klappern, so als kämen sie von weit außerhalb Tamales. Dann wieder sind sie sehr nah. Ein pausenloses Hämmern. Es pocht mir im Kopf. Es treibt den Puls. Es zieht in den Gliedern. Ich starre an die schwarze Decke und warte auf Schlaf. Ich wälze mich und warte wieder. Ich entzünde ein Streichholz und schaue nach der Uhr. Drei Uhr nachts. Ich schließe die Augen. Das Hämmern.

Ich laufe. Wieder laufe ich, sehe mich laufen. Den Gehwind ungekühlt im Gesicht, der getrocknete Schweiß spannt. Ich sehe mich vorsichtig Schritte am ausgefransten Straßenrand setzen. Der Verkehr wälzt sich im dünnen Straßenlicht. Ein schwerer Laster gräbt sich schräg wie ein Krebs durch das Gewühl. Durch Benzinschwaden fixiere ich den näherkrächzenden Peugeot. Ich renne los und erreiche die andere Straßenseite. Am Straßenrand sind dort die Betonplatten, die den Kanalisationsgraben abdecken, geborsten, sodass der Graben offen liegt. Ein Peugeot hält unvermindert auf mich zu. Neben dem Graben bleibt kaum Platz. Einen Moment zögere ich, überlege zu springen. Unten ein grauer Sud, aus dem mir saure Dünste entgegenschlagen. Ich halte den Atem an, versteife mich, verwandle mich in eine Leitplanke, ein Straßenschild. Ein Laut, als der Peugeot meinen Rücken streift.

Ein Laut und ein Lachen. Diesmal von nebenan, wo ein Afrikaner steht. Er uriniert in den Graben, schüttelt sorgsam die letzten Tropfen ab und nickt mir freundlich zu. Wieder kommt das Pochen näher. Es ist auch gegen den Lärm des Verkehrs da. Ich glaube, es war niemals weg. Der Mann grinst. „Ich glaube, da geht es lang.“ Er zeigt in eine Seitengasse. Ich bedanke mich. Er nickt und widmet sich wieder seinem Schwanz. Ich balanciere an dem Graben entlang und versuche, nicht zu atmen. An der ersten Möglichkeit überquere ich ihn und biege in die Gasse. Links und rechts erheben sich hier unfertige Gebäude, deren Konturen unförmig in die Nacht starren. Die Farbe Grau und die Farbe Schwarz.

Und plötzlich höre ich ein Schnarren. Es folgt mir. Es schmerzt in den Ohren und legt sich auf die Schläfen. Ich renne schon fast, aber das Geräusch bleibt dicht hinter mir. Es wird nun von rhythmischem Quietschen untermalt. „Tsss, tsss“, zischelt es in meinem Rücken. „Mista, Mista!“ Die Stimme ist sehr nah und überhaupt nicht außer Atem. Eine hohe Männerstimme. Der Mann hält mein Tempo. Dann schiebt sich ein gummibereiftes Kinderwagenrad an mir vorbei. Ihm folgen zwei lange Stangen, die langsam auseinander laufen, bis zwei Fahrradräder zum Vorschein kommen. Ein lässig zurückgelehnter Mann ohne Beine betätigt mit den Händen die Pedale. Die Muskeln seiner Arme treten hervor. Sein Gesicht hat eine verzerrte Symmetrie. Weder befinden sich die Augen in einer Horizontalen, noch verläuft die Nase irgendwie senkrecht. Er grinst mich an. Und während die eine Hand weiter das Pedal antreibt, streckt er die andere nach mir aus. „You’ve money?“ Ich schüttele den Kopf und laufe weiter. Er bleibt spielend neben mir.

Um ihn loszuwerden, wühle ich ein Geldstück aus meiner Tasche. Ohne hinzusehen, gebe ich es ihm. Er bremst ab. „Mista!“, ruft er Sekunden später und fährt bereits wieder neben mir. „Mehr gibt’s nicht.“ „Mista, no good!“ Er hat die Münze in der Hand. Wir bewegen uns in beachtlichem Tempo. Jetzt erst bemerke ich das Geldstück. Es ist groß und silbern. Größer als Cedis. Ich bleibe stehen. Er bremst scharf neben mir und sieht mich herausfordernd an. Es ist ein Zehnmarkstück. Ich glaube, ich habe bisher noch nie zehn Deutsche Mark als Münze gesehen. Ich weiß nicht, wie es in meine Tasche kam. Was für ein Glücksfall! Einen Moment lang fühle ich mich leicht. Kein Pochen, keine Gliederschmerzen. Jetzt aber drängt er mich, ihm das Geld zurückzugeben. Ich biete fünfzig Cedis an. Er lehnt ab. Hundert lehnt er auch ab. Unbeirrt verlangt er die silberne Münze.

Er bleibt dicht neben mir. Ein Rollstuhlfahrer kann mir nichts, sage ich mir. Ich bin ein freier Mensch, der frei über sein Eigentum verfügt. Überhaupt scheint es mir nunmehr eine üble Angewohnheit, hier in Afrika Almosen zu verteilen. Was für ein Unfug, diesem Rollstuhlfahrer seine schöpferische Fantasie zu rauben. Ihn in seinem Bettlerdasein zu bestätigen. Lieber sollte ich ihm erklären, dass milde Gaben ihre Ökonomie untergraben und ihr Selbstbewusstsein, dass . . .

Ich stolpere. Hinter mir und zu beiden Seiten neben mir befindet sich jetzt ein ganzes Geschwader solcher Fahrzeuge. Die Gesichter der Fahrer verheißen nichts Gutes. „Thief“, zischeln sie. Es pocht in allen Gliedern. Ich renne los. „Was wollt ihr? Ich schulde euch nichts!“ „Dieb“, keifen sie, „gib das Geld zurück!“ „Eben wolltet ihr es nicht.“ „Jetzt wollen wir es.“ Doch plötzlich bremsen sie ab. Neben mir taucht jemand auf. Seine Anwesenheit genügt, um die Verfolger aufzuhalten. Dies scheint sein Terrain zu sein. Ich sehe ihn dankbar an.

Es ist ein Junge von vielleicht zehn Jahren. Ein Gesicht, schwärzer als die Nacht. Sein Haar ist ungekämmt und steht in alle Richtungen. „Du möchtest trommeln?“ „Um Gottes willen, nein.“ „Eine Frau?“ „Nein, eh, das heißt . . . ja, meine. Maren heißt sie!“ „Schwarz?“ „Nein.“ „Du machst es dir schwer.“ „Ich hab’s schwer.“ „Du bewegst dich wie ein Chamäleon. Hast du gesehen, wie ein Chamäleon sich bewegt?“ „Nein, aber wenn ich Maren gefunden habe, werde ich’s mir ansehen.“ Dann ist das Trommeln wieder da. Es kommt aus den engen Gassen vor uns. „Dort kannst du nicht rein“, sagt der Junge. „Genau dort werde ich sie finden“, halte ich trotzig dagegen. „Wenn sie dort hinein ist, kannst du sie vergessen.“ „Sie ist dort hinein, und dort werde ich sie finden.“

Als ich mich zu ihm wende, ist er verschwunden. In der Nacht verdunstet. Das Trommeln kommt und geht, wie das Wasser am Meer. Mal ist es zum Greifen nah. Mal versiegt es zu einem dünnen Rinnsal. Unsicher sehe ich mich um. Und da sind tatsächlich wieder die Rollstuhlfahrer. Keine fünf Meter hinter mir. Kurz darauf fährt mir der erste in die Hacken. Ohne noch lange zu überlegen, sprinte ich los. Ich schaffe eine Distanz, bevor sie in Fahrt kommen. Dann aber holen sie auf. Jedes Mal wenn ich mich umwende, sind sie näher. Ein faustgroßer Stein schlägt neben mir auf den Asphalt. Ich renne in meiner äußersten Geschwindigkeit. Im Augenwinkel erkenne ich eine Lücke in der Häuserfront. Kurz entschlossen presche ich auf sie zu. Meine Verfolger schreien jetzt „Stop, thief!“ „Hilfe!“, rufe ich den wenigen Passanten zu. Zwar macht niemand Anstalten, mir zu helfen. Wenigstens aber beteiligt sich auch niemand an der Hetzjagd.

Das verdammte Zehnmarkstück werfe ich hinter mich. In der Seitengasse ist der Boden nicht asphaltiert. Nach ein paar Metern tun sich große Löcher auf. Erst als ich mich in Sicherheit wiege, bemerke ich wieder den Jungen. Irritiert sehe ich mich um. Keine Spur mehr von den Verfolgern. Links und rechts sind Glutpunkte kleinerer und größerer Feuer die einzigen Lichtquellen. Um sie herum Silhouetten wie von Felsformationen, unklar, ob sie Mensch oder Ding sind. Ein Murmeln in der Luft. „Azaro“, ruft eine tiefe Frauenstimme von hinten. „Geisterkind, wo bist du?“ Plötzlich beginnt der Junge zu rennen. Ich stolpere ihm hinterher. „Heißt du Azaro?“ „Nein, Ben. Lass mich in Ruhe.“ „Warum?“ „Dein Kopf!“ „Was ist mit dem?“ „Er ist komisch.“ „Was ist an meinem Kopf komisch?“ „Ein Kopf ist ein Kopf. Deiner allerdings ist ein Blähbauch.“

Unwillkürlich betaste ich mein Gesicht. Eine fettleibige Frau tritt uns in den Weg. „Azaro!“ Sie trägt ein Wickeltuch und um den Hals und an den Fingern schweren Schmuck. „Madame Koto!“, stöhnt Ben und rennt in eine Seitengasse. „Verdammtes Unglückskind!“, schreit sie ihm hinterher. Dann lacht sie. „Trink du wenigstens bei mir!“ Sie weist auf die von innen beleuchtete Bretterbude. Wie auf Kommando setzt in der Bar das Trommeln ein. „Ich habe keine Cedis mehr“, weiche ich aus. Es pocht unerhört in meinem Kopf. „Trink trotzdem“, drängt sie und schiebt mich in Richtung Eingang. Ich gehe voraus.

Madame Koto bleibt draußen. Die Bar ist leer. Das Trommeln scheint aus irgendwelchen Lautsprechern zu kommen. Ein paar nackte Tische stehen herum und werden von eisernen Rohrstühlen umlagert. Über dem Hinterausgang hängt ein Fetisch. An den Wänden Poster. Blasse, asiatische Pin-up-Girls mit weißen Brüstchen. Daneben grell illustrierte Bibelgeschichten. Ich setze mich an einen Tisch und warte. Schließlich kommt Madame Koto durch die Hintertür. Sie windet sich auf Umwegen zu mir durch und serviert Pfeffersuppe und Hirsebier. Sie sieht zu den leeren Tischen. Ihr Gesicht wirkt besorgt. Ebenso umständlich, wie sie gekommen ist, verlässt sie den Raum wieder. Ich stürze das lauwarme Bier herunter. Und schon muss ich würgen. Es schmeckt nach Erbrochenem. Auch die Suppe ist ungenießbar. Selbst als Würzmittel wäre sie noch zu scharf.

Die Kanten des Metallstuhls schneiden ins Fleisch. Nirgendwo sehe ich Madame Koto. Ich beschließe zu gehen. Als ich mich auf den Ausgang zubewege, reißt das Trommeln ab. „Hey!“ Ich sehe mich um. Ben steht da. „Siehst du nichts?“ „Was?“ „Halt! Vorsicht!“ „Was ist?“ „Guck doch.“ „Ich guck ja.“ „Na also.“ „Wie also?“ „Du kannst doch nicht einfach durch sie hindurchgehen.“ „Durch was hindurchgehen?“ Ich wende mich zum Gehen. „Sag Madame Koto, dass ich mich für Essen und Trinken bedanke.“ „Sag’s ihr selbst!“ „Sie ist nicht da.“ „Hinter dir!“ Mit diesen Worten flieht er aus dem Raum.

Die Drums setzen wieder in voller Lautstärke ein. Ich fahre herum. Madame Koto steht unmittelbar hinter mir. Sie scheint mir noch fetter geworden zu sein. „Bei solchen Festen tanzen wir“, sagt sie, schlingt ihren dicken Arm um meine Hüfte und zieht mich an sich. Von ihrem Hirsebieratem wird mir übel. Mit erstaunlich schnellen Tanzschritten führt sie mich durch den menschenleeren Raum. Immerzu korrigiert sie meine Richtung, windet uns an Dingen vorbei, die ich nicht sehen kann. Schweiß rinnt ihr in dicken Tropfen über Gesicht und Hals. Sie lacht ein fettes Lachen und drückt mich noch fester an sich. Ihre Brüste quellen aus dem Wickelkleid. Der Schweiß staut sich auf ihnen und sickert nur langsam ab. Mit dem Rhythmus werden Madame Kotos Bewegungen schneller. „Na los, zeig, was du kannst!“, keucht sie mir zu und kichert.

Meine Füße geraten aus dem Tritt, während ihre zu wirbeln beginnen. Sie reißt mich mit beiden Armen an sich und hebt mich durch die Luft. Ich rudere mit den Händen. Ihr Griff ist unnachgiebig hart. Sie wirbelt mich im Kreis. Ich verliere kurz die Besinnung. Ein schwarzer Moment. Ein höllisches Pochen in den Schläfen. Als ich wieder zu mir komme, sehe ich plötzlich viele andere Paare um uns herum tanzen. Schwarze Frauen in engen Röcken kreisen mit den Hüften. Sie schmiegen sich an schwarze Männer, die sich ihrerseits an ihnen reiben. Ein rhythmisches Seufzen geht durch den Raum. Seitlich erkenne ich die Trommler. Mit Händen und Ellbogen malträtieren sie die Felle.

Und plötzlich sehe ich Maren, einzige Weiße unter all den Schwarzen. Ihr Kopf ruht auf einer Schulter. Sie hat die Augen geschlossen. Nur ein Augenblick steht das Bild vor mir. Dann werde ich herumgeschleudert. Und das nächste Bild von ihr: Marens Rücken, über den das offene Haar fällt. Sie trägt ein rotes, kurzes Kleid, das ich noch nie gesehen habe. Darüber das Gesicht des Mannes, mit dem sie tanzt. Ein zynisches Lachen zu mir. Und während meiner nächsten Umdrehung weiß ich bereits, wer er ist: der Mann am Abwassergraben. Ich kann ihn zweifelsfrei identifizieren, während Madame Koto mich fast zerquetscht und dabei in immer schnelleren Pirouetten herumwirbelt. Ich will anhalten. Meine Glieder schmerzen unerträglich, und ich fürchte zu erbrechen. „Gibt es etwas Traurigeres als euch Weiße mit euren riesigen Köpfen?“, schreit sie plötzlich und lässt mich mitten im Wirbel los. Die Zentrifugalkraft schleudert mich kopfüber durch den Raum. Die Tänzer kreischen belustigt. Noch im Flug suchen meine Augen Maren und diesen Mann. Ihre Körper schmiegen sich eng aneinander. Und doch erkenne ich seine mächtige Rute. Dann werde ich direkt durch die Tür katapultiert.

Es ist wieder Nacht. Das Trommeln plötzlich nur noch ein fernes Zirpen. Kein Licht weit und breit. „Ich hab dich gewarnt“, sagt Ben, während er mir auf die Beine hilft. „Was war das?“, frage ich benommen. „Madame Koto“, sagt er, „schlaf weiter!“

Das westafrikanische Küstenland Ghana am Golf von Guinea galt den Kolonialisten als „Grab des weißen Mannes“. Schuld daran ist das extreme Klima (im Süden eine Luftfeuchtigkeit von ca. 80 Prozent, im Landesinnern Trockenheit und Höchsttemperaturen von 45 °Celsius), das Krankheiten jeder Art Vorschub leistet. Obwohl der Tourismus zur drittwichtigsten Devisenquelle werden soll (nach Kakao und Gold), bleibt eine Individualreise nach Ghana ein Abenteuer. Wer einen Erholungsurlaub sucht, wird kaum auf seine Kosten kommen. Reisende ohne Afrikaerfahrung sollten sich an einen Reiseveranstalter wenden.