Hungern gegen den Kriegswahn

Eine kleine Gruppe von Friedensaktivisten kämpft in Moskau für ein sofortiges Ende des Tschetschenienkrieges. Den Opfern wollen sie ein Denkmal setzen ■ Von Bernhard Clasen

Berlin (taz) – Angesichts des schrillen Kriegsgeheuls, der Durchhalteparolen und des proklamierten nahen Sieges über die „Terroristen“ in Tschetschenien gibt es in Russland nur wenige, die ihre Stimme gegen den wahnwitzigen Krieg im Kaukasus erheben.

Eine gehört Viktor Popkow, Sprecher der Antikriegsorganisation „Komitee zur Förderung von Vereinbarungen zwischen Russland und Tschetschenien“. Nach Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges trat er in einen 41-tägigen Hungerstreik. Popkow hatte sich in den letzten Jahren immer wieder für Versöhnung zwischen Russland und Tschetschenien eingesetzt. Regelmäßig protestiert die Gruppe in Mahnwachen und Hungerstreiks für ein sofortiges Kriegsende.

Der Krieg Russlands gegen Tschetschenien ist für sie ein „Genozid“, die Diskriminierung der Tschetschenen in Russland „Apartheid“. Doch die Gruppe protestiert nicht nur in Moskau. Regelmäßig fährt ihr Sprecher, Viktor Popkow, nach Tschetschenien und sucht den Dialog mit der dortigen Bevölkerung. Zuletzt im Dezember 1999.

Bekanntestes Mitglied der Gruppe ist neben Popkow der Duma-Abgeordnete Juli Rybakow. Der für seine eindeutige Verurteilung des Tschetschenienkrieges bekannte parteilose Politiker wurde erst kürzlich als Direktkandidat bei den jüngsten Duma-Wahlen wiedergewählt. Der ehemalige Dissident hatte im ersten Tschetschenienkrieg mit dem damaligen Menschenrechtsbeauftragten der russischen Regierung, Sergej Kowaljow, Grosny mehrfach besucht.

Dem derzeit herrschenden xenophobischen Großmachtdenken möchte die Gruppe ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von „Reue“ entgegensetzen. Werte wie Mitgefühl, Toleranz und Solidarität seien in der russischen Gesellschaft weitgehend verloren gegangen. Bester Beleg hierfür sei der Tschetschenienkrieg. „Wir müssen Reue zeigen für all unsere Intoleranz, für den Verlust von Mitgefühl und unseren Egoismus“, sagt Popkow. Solange jede Seite nur beim anderen die Schuld für den Tschetschenienkrieg suche, sei dessen Ende nicht absehbar.

Ähnlich wie sich die von Andrej Sacharow gegründete Menschenrechtsorganisation „Memorial“ zu Sowjetzeiten für ein Denkmal für die Opfer der Stalinzeit eingesetzt hatte, will das Komitee den Opfern der neueren Politik in Russland ein Denkmal setzen. Darauf sollen die Namen aller Opfer der Kriege in Tschetschenien, von Hass und Intoleranz in Russland verewigt werden.

Popkow, der am vergangenen Donnerstag nach Tschetschenien reiste, möchte auch den Präsidenten Tschetscheniens, Aslan Maschadow, für das Mahnmal gewinnen. Durch eine öffentliche Unterstützung des Projektes würde auch Maschadow eine Mitschuld der Tschetschenen eingestehen. Ein Bewusstsein, zumindest einen Teil der Schuld und Verantwortung für die derzeitige Situation zu tragen, habe er bei seinen Besuchen in Tschetschenien immer wieder gespürt, sagt Popkow. Und: „Eine Initiative für ein Mahnmal der Opfer unserer Gleichgültigkeit und unseres Egoismus von tschetschenischer Seite würde auch in Russland ein Echo haben.“

Leider sei dieses Gefühl von Schuld und Reue, wie er es in Tschetschenien antreffe, in Russland kaum vorhanden. Dort, so Popkow, seien „die Kaukasier“ immer noch beliebte Sündenböcke, mit denen von eigenen Verfehlungen abgelenkt werden soll.

Nicht überall in der kleinen russischen Friedensbewegung stößt die Initiative für ein Mahnmal der Opfer der Tschetschenienkriege auf Gegenliebe. Svetlana Gannuschkina, Mitglied des Moskauer Menschenrechtszentrums „Memorial“ und als Vorsitzende der „Zivilen Unterstützung“ erste Anlaufstelle für die Flüchtlinge aus Tschetschenien, kann diesem Vorschlag nichts abgewinnen: „Wir kämpfen um jeden Rubel, um den Flüchtlingen helfen zu können. Anstatt ein teures Denkmal zu bauen, wäre es doch sinnvoller, dieses Geld zur Unterstützung der Kriegsopfer einzusetzen“, meint die Menschenrechtlerin.

Die Zeit drängt. Das Komitee fürchtet, dass der Höhepunkt des Präsidentenwahlkampfes gleichzeitig auch zum Höhepunkt des Krieges werden kann. Und so will das Komitee der tschetschenischen Führung in den kommenden Tagen einen Katalog von Friedensvorschlägen unterbreiten, die sich die tschetschenische Seite zu Eigen machen soll.

Auf der Grundlage der Vereinbarungen über Frieden und Zusammenleben zwischen der Russischen Föderation und der Repulik Itschkeria vom 12. Mai 1997 sehen diese Friedensvorschläge unter anderem vor, in Tschetschenien gemeinsame Arbeitsgruppen aus Russen und Tschetschenen zur Untersuchung von Verbrechen einzusetzen. Dabei soll es keine Verjährungsfristen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit geben.

Überdies beinhalten die Vorschläge die Vereinbarung eines sofortigen Waffenstillstandes und den Beginn von Verhandlungen. Den Waffenstillstand sowie die Einhaltung der noch zu treffenden Vereinbarungen zwischen Tschetschenien und Russland sollen staatliche und nichtstaatliche russische, tschetschenische und internationale Organisationen überwachen. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) soll dabei die Schirmherrschaft übernehmen.

Eine weitere Forderung lautet, jegliche Diskriminierung von Tschetschenen in Russland abzuschaffen. Dabei soll bei Hetze gegen „Personen kaukasischer Nationalität“ in den Massenmedien der Spielraum der russischen Gesetze ausgeschöpft werden.

Das Komitee ist optimistisch, dass sich die tschetschenische Führung diese Vorschläge zu Eigen machen wird. Dann, so Viktor Popkow, wäre Russland am Zuge. Ob sich die russische Führung jedoch von diesen Vorschlägen beeindrucken lassen wird, bleibt abzuwarten.