■ Mit seiner Flucht über die winterlichen Pässe des Himalaja knüpft der Karmapa, der dritthöchste Führer der tibetischen Buddhisten, an eine Tradition. Schon der Dalai Lama floh 1959 aus dem von China besetzten Tibet ins Exil. Noch vor einigen Jahren pilgerten jährlich Tausende nach Indien – bis China dem religiös motivierten, publicityträchtigen Treck ein Ende machte. Für Peking ist die Flucht des 14-jährigen Karmapa ein herber Schlag.
: Eine Frage des Glaubens

Ungewöhnlichen Besuch erhielt am vergangenen Mittwoch im nordindischen Dharamsala der Dalai Lama. Es war Orgyen Trinley Dorje, der 17. Karmapa, der bei ihm vorsprach, das spirituelle Oberhaupt der zweiten der drei großen Schulen des tibetischen Buddhismus.

Dass der Besuch unerwartet kam, zeigen die Umstände der Anreise. Der 14-Jährige war nicht etwa mit einem Linienflug über Peking und Delhi im indischen Exil des Dalai Lama gelandet, sondern hatte einen Fußmarsch von sieben Tagen hinter sich, der ihn von seinem Kloster in der Nähe der tibetischen Hauptstadt Lhasa nach Nepal gebracht hatte. Dort wurde er von Mönchen seiner Schule erwartet und anschließend mit dem Auto nach Indien gebracht.

Ein Fußmarsch über den Himalaja ist besonders im Winter eine außerordentliche Strapaze. Der höchste Gebirgszug der Welt, der das tibetische Hochplateau von der Tiefebene des indischen Ganges-Tals trennt, ist nicht nur viel länger als die Alpen. Er ist mit seinen zahlreichen Quertälern auch viel tiefer und entspricht allein in seinem „hochalpinen“ Teil einer Ausdehnung, die von Mailand bis München reicht.

Trotz dieser natürlichen Hürde gibt es zwischen Tibet und Indien zahlreiche alte Handelswege, auf denen neben Salz und Wolle auch einmal der Buddhismus nach Tibet gelangt war. Als China zu Beginn der Fünfzigerjahre Tibet eroberte, wurden die meisten Routen aber geschlossen und blieben den wenigen Nomaden vorbehalten, die sich wenig um internationale Grenzen scherten. Seit einigen Jahren sind einige der alten Handelsposten wieder geöffnet, und es gibt inzwischen auch eine geteerte Straße, den Friendship Highway zwischen Lhasa und der nepalischen Hauptstadt Katmandu, die ganzjährig befahrbar ist.

Die extremen Entfernungen, Höhe und Kälte sorgen dafür, dass die wenigen Reisenden, die von Indien und Nepal nach Tibet über die Bergrouten ziehen, wenn immer möglich diesen ausgetretenen Pfaden folgen, um die Strapazen nicht noch zusätzlich zu erhö- hen.

Wenn das Motiv jedoch nicht touristischer Natur, sondern Flucht ist, müssen gerade diese Routen vermieden werden. Denn dort droht den Fliehenden nicht nur die Gefahr, von chinesischen Grenzpolizisten aufgegriffen zu werden. Auch Nepal verfolgt seit einigen Jahren eine äußerst restriktive Politik, um den chinesischen Drachen im Norden nicht zu verärgern.

Wenn tibetische Flüchtlinge oder Dharamsala-Pilger den nepalischen Ordnungskräften in die Hände fallen, werden sie heute in der Regel an die Grenze verbracht und den Chinesen ausgeliefert. Die Flüchtlinge folgen daher oft Routen, die so schwer passierbar sind, dass sie von keiner der beiden Seiten kontrolliert werden.

Mit seiner Flucht über den tiefgefrorenen Himalaja knüpft der 14-jährige Karmapa daher an eine Tradition an, die sich herausgebildet hat, seitdem das wichtigste geistige Oberhaupt des tibetischen Lamaismus, der 14. Dalai Lama, sich im nordindischen Dharamsala niedergelassen hat. Bis vor einigen Jahren wanderten jedes Jahr mehrere tausend Tibeter über das Gebirge, und die Strapazen, die sie dabei auf sich nahmen, waren geradezu übermenschlich. So war 1994 die Gebirgsodyssee eines fünfjährigen Mädchens aus dem tibetischen Lhasa bekannt geworden, das mit seinem Vater über Gletscher und Pässe in 7.000 Metern Höhe nach Dharamsala wanderte, wo der Vater sie in die Schule schicken wollte.

Die Außenwirkung solcher religiös motivierter Anstrengungen hat die chinesische Führung in Peking aber seit einigen Jahren dazu bewogen, diesen Pilgerreisen ein Ende zu bereiten – mit dem erprobten Mittel der Sippenhaftung. Wenn ein Familienmitglied plötzlich verschwindet, droht den Angehörigen eine Haftstrafe, Hab und Gut der Familie werden konfisziert.

Den Anstoß zu dieser beschwerlichen Tradition hatte der Dalai Lama selber gegeben. 1959 war er angesichts einer zweiten chinesischen Invasion, die die letzten Reste tibetischer Selbstständigkeit beseitigen sollte, aus seinem Sommerpalast geflohen. Nach einem langen Treck zu Fuß und auf Eselsrücken erreichte er, verfolgt von chinesischen Truppen und bei äußerst schlechten Wetterbedingungen, schließlich den heutigen indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh, wo er von indischen Grenzbeamten willkommen geheißen wurde.

Auch der Karmapa musste seinen chinesischen Bewachern ein Schnippchen schlagen, um aus dem Kloster-Käfig zu fliehen, den ihm Peking zur Verfügung gestellt hatte. Er hatte erklärt, sich für eine Meditation in ein entferntes Kloster in den Bergen zurückziehen zu wollen. Dies tat er – nur lag das Kloster diesmal am Südhang des Himalaja und hieß Dharamsala.Bernard Imhasly, Delhi