Vom europäischen Kasperletheater

■ Der britische Historiker Timothy Garton Ash ist in seinen Kreisen nicht unumstritten. Er sei in seinen Analysen über die politischen Eruptionen seit 1989 zu journalistisch. Im Gegenteil sei das eine Tugend, meint Norbert Seitz

Auf den ersten Blick dachte er, Momper habe zur Feier des Tages seiner vertrauten Glatze eine Perücke übergestülpt. 3. Oktober 1990 in der Berliner Philharmonie. Ein Unbekannter tritt ans Rednerpult und will die erste Ansprache halten. „Erlauben Sie mir fünfzehn Minuten.“

Doch es ist nicht Walter Momper, sondern Walter Mitty. Der Unbekannte wird vom Zeremonienmeister höflich aufgefordert, die Bühne zu verlassen, und dann nach draußen geführt. Der kleine Zwischenfall habe vor Augen geführt, was an der Bundesrepublik so schätzenswert sei: „bürgerlich, zivil und zivilisiert. Die kleine Tat entsprach den großen Worten – und der großartigen Musik.“

Timothy Garton Ash ist stets mittenmang. Die Nacht zum Tag der Deutschen Einheit hatte er noch mit Adam Michnik in Frankfurt (Oder) durchgezecht. Als Hans Dampf in allen Wendegassen analysiert Garton Ash die „Geschichte der Gegenwart“, die im „Dreiländereck von Journalismus, Geschichtsschreibung und Literatur“ angesiedelt ist. Im neuesten Sammelband präsentiert er seine Reportagen und Essays im Rahmen einer Chronik der Neunzigerjahre. Sein methodisches Vorgehen ist durchaus umstritten. Als er an sein früheres College nach Oxford zurückkehrte, wurde sein Begriff von Zeitgeschichte als „Journalismus mit Fußnoten“ abqualifiziert. Dabei betreibt Garton Ash mit seinen Reportagen eine hautnahe Zeitgeschichtsschreibung.

So entgeht er jener intellektuellen Lieblingsbeschäftigung der vorschnellen Schubladisierung. Bevor sich zum Beispiel alte Bürgerrechtler, Ostpolitiker und Kalte Krieger weiterhin um den historischen Anteil am Niedergang des Kommunismus und der Befreiung Ostmitteleuropas streiten, sollten sie besser die Lektüre dieses Briten zur Hand nehmen. Er versucht jedem Beteiligten gerecht zu werden, ohne jemandem nach dem Mund zu reden. So nennt er die Befreiung einen späten Triumph von Adenauers „Magnet-Theorie“, verweist aber auch auf die Verdienste von Brandts Ostkontakten und den unbestreitbaren Anteil der „friedlichen Revolution“: „Es war tatsächlich eine ‚gefährliche Destabilisierung‘, die Deutschlands Vereinigung ermöglicht hat.“ Bliebe noch „Gorbatschows Größe“, auch die „unbeabsichtigten Tatsachen“ und Nebenfolgen seiner Politik akzeptiert zu haben. Garton Ash: „Das ist das Leben.“

Der Historiker scheut keinen Gang. „Oh, er könne Geschichten erzählen!“, bedeutet ihm Häftling Honecker im Moabiter Gefängnis. Die schmutzige Wäsche der Geschichte. Seine Gespräche mit den westdeutschen Sozialdemokraten seien „kameradschaftlich“ gewesen. Aber auch mit Kohl habe stets gutes Einvernehmen bestanden. Der Herr im Sträflingsschlafanzug zeigt ihm eine zerknitterte Karte mit der Durchwahlnummer des Bundeskanzlers.

„Man kann im Laufe seines Lebens Intellektueller und Politiker sein, doch sobald man versucht, beides gleichzeitig zu sein, ist man weder das eine noch das andere“, so sein Credo. Auf dem 61. Weltkongress des internationalen Schriftstellerverbandes PEN 1994 bearbeitet Garton Ash den thematischen Dauerbrenner vieler mittelosteuropäischer Dissidenten und ihrer westdeutschen Freunde – das Verhältnis zwischen Intellektuellen, Politik und Moral. „In der Wahrheit leben“, hatte Václav Havel 1989 als neue Losung ausgegeben, denn Politiker arbeiteten mit Halbwahrheiten.

Doch keiner mag die implizite Behauptung noch akzeptieren, „Intellektuelle seien Politikern moralisch überlegen oder hätten die Wahrheit für sich gepachtet“. Selbst Havel, die Prager Lichtgestalt, gibt dem Analytiker Rätsel auf. „Das, was er zu sagen hat, ist oft vage und wirr, und seine analytische Verwirrung ist Spiegel einer tiefergehenden Verwirrung über die eigene Rolle.“ Wie sehr ein moralischer Überflieger an der Spitze des Staates seinen Regierungschef eifersüchtig machen kann, bewies nicht nur die stille Gegnerschaft zwischen Helmut Kohl und Richard von Weizsäcker, sondern auch das „Kasperltheater“ zwischen Václav Klaus und Havel: „Wenn Havel sich heute fürs Spinatessen ausspricht, ist Klaus morgen unter Garantie dagegen. Aus einwandfreien, neoliberalen Gründen, versteht sich.“

In Bosnien erlebt der Autor das Elend der europäischen Diplomatie. Als er einen EU-Beamten sagen hört: „Wir können Leute, die einander töten wollen, nicht daran hindern“, sehnt er sich nach der Eisernen Lady zurück: „Was immer man von Margaret Thatcher halten mag, man fragt sich, was wohl passiert wäre, wenn sie damals noch im Amt gewesen wäre.“ Jedenfalls mussten die USA, so der Autor, wieder einmal einen europäischen Konflikt zu lösen versuchen.

Garton Ash treibt der himmelschreiende Widerspruch umher, dass Politiker wie Kohl von der „friedlichen und unumkehrbaren Vereinigung Europas“ schwärmen, während ein anderer Teil Europas „brutal und – so steht zu befürchten – unumkehrbar auseinandergerissen wird“. Konstanty Gebert hat es auf die Formel gebracht: „Wenn du nach Europa zurückkehren willst, so führe deine ethnischen Säuberungen durch, dann warte eine Generation.“ Doch wehe Europa, wenn ethnische Säuberungen als nötiges Übel hingenommen werden müssten.

Der Autor glaubt, dass die Führer nach 1989 die falschen Prioritäten gesetzt hätten: „Wir bastelten in Maastricht, während Sarajewo brannte.“ Ein Paradigmenwechsel im europäischen Denken müsse her. Das Konzept „Vereinigung“ sei grundsätzlich verfehlt. Das beste Paradigma sei das einer liberalen Ordnung. Dieser Vision geht die Vorstellung von Europa als Akteur auf der Weltbühne, als Weltmacht ab. Das Streben nach Vereinigung könne am Ende sogar jene Errungenschaften schaden, „deren Krönung sie sein sollte“.

Einen zentralen Stellenwert nimmt auch das Thema Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit ein. Der „unverbesserliche angelsächsische Empiriker“, als der er sich gerne sieht, setzt lieber beim Gedächtnis einzelner Individuen als bei Verallgemeinerungen über nationale Psychen an, denn: „Das Gedächtnis ist weit mehr als nur ein anderes Land. Es ist ein anderes Universum. Der Historiker ist ein Reisender durch die grenzenlosen Welten individueller Gedächtnisse.“

Aufarbeitung? Nach dem „Beschweigen“ der Nazivergangenheit und der Nürnberger „Siegerjustiz“ hält der Autor die verschiedenen neueren Varianten wie den systematischen Weg der Gauckbehörde oder das „Lustrationsgesetz“ der sanften Säuberung in der Tschechoslowakei für gangbar, aber nicht unproblematisch. Verwies nicht gerade Havel auf die Schwierigkeit, unter posttotalitären Regimes noch zwischen „ihnen“ und „uns“ unterscheiden zu können? Die Trennungslinie sei durch jeden einzelnen Menschen hindurch verlaufen. Garton Ash: „Niemand war einfach ein Opfer, jeder war in gewissem Ausmaß mitverantwortlich.“ Deshalb glaubt der Autor eher an einen „Dritten Weg“, den konventionellen Weg der Geschichtsstunden.

Timothy Garton Ashs neuer Sammelband ist eine gelungenes Exempel dafür, der Hypothese zu misstrauen, „dass mit dem Vergehen der Zeit und durch sorgfältiges Studium der Quellen mehr darüber zu erfahren sei, was wirklich geschehen ist“. Der Autor stützt sich vielmehr auf die im Alltag bewährte Annahme, „dass wir von einem Ereignis umso mehr wissen, je näher wir ihm räumlich und zeitlich kommen“.

Timothy Garton Ash: Zeit der Freiheit. Aus den Zentren von Mitteleuropa, Hanser Verlag, München 1999, 500 Seiten, 49,80 DM