Straffrei auf Krankenschein

■ Weil ein britisches Gutachten dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit attestiert, wird er wohl bald seine Heimreise antreten dürfen

Der Fall Pinochet nähert sich seinem Ende – jedenfalls für den britischen Innenminister Jack Straw. Seit der chilenische Ex-Diktator Augusto Pinchet am 16. Oktober 1998 in London festgenommen worden war, standen die Chancen für ihn, als freier Mann nach Chile zurückkehren zu dürfen, noch nie so gut wie heute.

Am 14. Oktober vergangenen Jahres hatte die chilenische Regierung, nicht Pinochets Verteidiger, die britische Regierung gebeten, den Gesundheitszustand Pinochets noch einmal auf seine Verhandlungsfähigkeit hin zu überprüfen. Der Innenminister benannte daraufhin eine hochrangige Kommission aus Professoren, die den General auf Herz und Nieren überprüfte – und schließlich zu dem Ergebnis kam, der Gesundheitszustand Pinochets habe sich in der jüngsten Zeit derart verschlechtert, dass er nicht in der Lage sei, den Auslieferungsprozess durchzustehen. Daran, so das einhellige Urteil der vier Experten, werde sich nichts ändern.

„Unter diesen Umständen“, heißt es in der Stellungnahme des Innenministers vom Dienstagabend, „ist der Innenminister geneigt, (...) die Auffassung zu vertreten, dass es keinem Zweck dienlich ist, das laufende Auslieferungsverfahren fortzusetzen, und dass er daher entscheiden sollte, Senator Pinochet nicht auszuliefern“. Was im Satzbau so britisch umständlich daherkommt, markiert die letzte Möglichkeit der Befürworter einer Auslieferung Pinochets an die spanischen Strafermittler, ihrer Position noch Gehör verschaffen. Binnen sieben Tagen, fordert Straw, sollten alle an dem Prozess beteiligten Parteien, einschließlich der verschiedenen involvierten Menschenrechtsorganisationen, zu dieser Frage Stellung nehmen – dann wolle er endgültig entscheiden. Auch die Regierungen Frankreichs, Belgiens und der Schweiz, in deren Ländern ebenfalls Verfahren gegen Pinochet anhängig sind, die aber ihre Auslieferungsbegehren dem spanischen Verlangen untergeordnet hatten, seien informiert und um Stellungnahme gebeten worden.

Zwar haben die spanischen Ermittler bereits angekündigt, gegen eine Freilassung Pinochets aus gesundheitlichen Gründen vorgehen zu wollen – doch die spanische Regierung ließ verlauten, sie werde dieses Begehren nicht gegen den Willen der Briten weiterleiten.

Schon vor Tagen waren Gerüchte aufgekommen, die ärztlichen Gutachten könnten Pinochet für prozessunfähig erklären. Die Organisation amnesty international, die im Verfahren auf Seiten der Staatsanwaltschaft auftritt, hatte daraufhin geltend gemacht, nicht Innenminister Jack Straw, sondern die Gerichte sollten über die Bewertung eines solchen Gutachtens entscheiden – wie es bei jedem normalen Gerichtsverfahren der Fall ist. Amnesty fordert außerdem, ein zweites unabhängiges Gutachten zu erstellen und die Staatsanwaltschaft über die genauen Ergebnisse zu unterrichten. Die Details der jetzt abgeschlossenen Untersuchung nämlich bleiben geheim – zum Schutz der Privatsphäre des Angeklagten und unter Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht. Das aber, so amnesty, könne nicht gelten, wenn der Gesundheitszustand eines Angeklagten zur entscheidenden Frage eines öffentlich geführten Strafprozesses werde. Ob die Staatsanwaltschaft im Falle einer Entscheidung Straws zur Freilassung Pinochets erneut die obersten Richter anrufen würde, war gestern unklar.

Die meisten Beobachter waren sich jedoch darin einig, dass Pinochet wohl vermutlich innerhalb der nächsten vier Wochen, womöglich sogar schon Ende Januar die Heimreise werde antreten können. Was ihn daheim erwartet, ist so klar auch nicht. Der chilenische Botschafter in Großbritannien, Pablo Cabrera, vertrat gestern gegenüber britischen Medien erneut die Auffassung, Pinochet könne durchaus auch in Chile juristisch belangt werden. Tatsächlich könnte theoretisch der chilenische Senat die lebenslange Immunität des Senators aufheben – was er nicht tun wird, da die Mehrheitsverhältnisse dort nicht dafür stehen. Und im vergangenen Jahr entschied das Oberste Gericht in Santiago, dass die Amnestiegesetze nur auf jene Verbrechen der Diktatur anzuwenden seien, die „abgeschlossen“ sind – nicht aber auf jene so genannten „Dauerdelikte“, wo Menschen nach 1978 verschwunden sind – bis heute. Tatsächlich öffnet diese Entscheidung theoretisch die Tür für eine juristische Aufarbeitung vieler Verbrechen der Diktatur auch in Chile selbst. Chilenische Gerichte haben in den letzten zwei Jahren bald 50 Klagen gegen Pinochet angenommen – auch das ist neu. Wenn Pinochet nun allerdings als „prozessunfähig“ eingestuft nach Hause fährt, dürfte ihm auch dort juristisch gar nichts mehr drohen. Immerhin ist zu erwarten, dass er auch seinen politischen Einfluss niemals wiedergewinnt: Nur 11,2 Prozent der Bevölkerung wollen einer Umfrage zufolge, dass Pinochet seinen Sitz im Senat wieder einnimmt. 87 Prozent sind dagegen. Bernd Pickert