Zwischen den Rillen
: Dialog mit Rotoren

Holz, Metall und viel Vision: Stockhausens „Helikopter-Quartett“

ABBA hatten sich für das Cover zu „Arrival“ in das Cockpit eines Hubschraubers gezwängt. Blumfeld konnten den pulsierenden Flügelschlag des Helikopters für „L'état et moi“ auch musikalisch etablieren. Stockhausen ist es gelungen, die Musiker, noch während sie spielen, in Hubschrauber zu verfrachten. Die Mitglieder des Arditti String Quartets, des namhaften Streichquartetts für zeitgenössische Musik, hocken nervös in den Kabinen der Fluggeräte und spielen gegen den Lärm der Motorengeräusche an, die sich in dicken Wogen über den hölzernen Streicherklang legen.

Das „Helikopter-Streichquartett“ von Karlheinz Stockhausen entstand zu Beginn der 90er-Jahre. Die Uraufführung 1995 kam als Event daher, das einer Eröffnungsfeier von Olympischen Spielen in nichts nachsteht. Unter riesigen Lautsprecher- und Monitortürmen konnte das Publikum verfolgen, wie die vier Musiker in je einem Hubschrauber über den Himmel von Amsterdam sausten und eine gute halbe Stunde lang im Einklang mit ihren Fluggeräten musizierten. Dabei spuckten sie numerische Partikel der „Formel“, mit deren Hilfe das Stück komponiert ist, in ihren Headset: „Eins, zwei, drei.“

Schon von der technischen Seite hat das etwas Heikles. Stockhausen-Aufführungen mussten in der Vergangenheit wiederholt abgesagt werden, weil man mit seinen Vorstellungen von Realisierung schlicht nicht zurande kam. Es war das 19. Jahrhundert, das das musikalische Kunstwerk mit dem Nimbus des Nicht- oder Erst-in-Zukunft-Spielbaren ausgestattet hatte. Dass Stockhausen an diesem gegenüber technischen Bürden ignoranten Schöpfungsmodus festhält, ist Teil seines Erfolges: ein Visionär in prosaischer Zeit. Die Idee zum Hubschrauberstück führt der Komponist denn auch auf eine Eingebung zurück: „Und dann kam ein Traum: Ich hörte und sah die vier Streicher in vier Helikoptern in der Luft fliegen und spielen. Die Streicher spielten meist Tremoli, die sich mit den Klangfarben und Rhythmen der Rotorblätter so gut mischten, dass die Helikopter wie Musikinstrumente klangen.“ Man will dem derart Erleuchteten nicht direkt widersprechen. Eine Tradition solcher Träume gibt es trotzdem, sogar eine durchaus prosaische.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als man Angst vor großen Posen noch nicht kannte, hatte Filippo Marinetti in einem futuristischen Manifest verkündet, ein Rennauto sei schöner als die Nike von Samothrake. Zwar blieb der Futurismus für die Musik weitgehend folgenlos – von einigen Maschinenfantasien bruitistischer Prägung einmal abgesehen –, aber alles, was Komponieren in den vergangenen Jahrzehnten vorzutragen hatte, entspringt der Polarität von Technik und Tradition. Was bei Marinetti als bloße Antithese zum Schönheitsbegriff klassischer Kunst ins Feld geführt wurde, erfuhr in den nachfolgenden Jahrzehnten diverse Versuche der Synthese. Das „Helikopter-Quartett“ ist nur ein weiterer Höhepunkt dieser Entwicklung.

Keine musikalische Form hat, von der Sinfonie abgesehen, der moderne Verzicht auf „klassischen“ Ausdruck so getroffen wie das Streichquartett. Über Jahrzehnte hinweg ist es kaum einem Komponisten eingefallen, auf den vierstimmigen Streichersatz zurückzugreifen. Auch Stockhausen lehnte den Auftrag zunächst ab: „Meine erste Reaktion war, dass ich kein Streichquartett komponieren würde, weil ich Form, Inhalt und Aufführungspraxis nie getrennt habe und das Streichquartett eine typische Gattung des 18. Jahrhunderts ist.“ Die Gattung behauptete sich seit den 80er-Jahren bloß als Folie musikalischer Innerlichkeit.

Im Streichquartett Stockhausens nun wird der Nimbus der Intimität gründlich weggepustet. Die Konstruktion eines übermächtig klingenden Aufführungsortes, an dem die Musik interveniert, zu keiner Zeit aber dominiert, entfesselt intergalaktisches Feedback zwischen Musikern und Hubschraubern. Der Pomp der Inszenierung und der gänzliche Verzicht, das Assoziationsfeld Hubschrauber auf Bedeutung hin auszuleuchten (Krieg, Katastrophe), schmecken dieser Qualität freilich vorerst unangenehm bei.

Auf Tonträger liegt das „Helikopter-Quartett“ jetzt gleich zweifach vor. Neben dem Mitschnitt der Uraufführung auch in einer Studioproduktion, ebenfalls mit dem Arditti String Quartet. Der Vorteil der Studioproduktion: der gute Klang der Streicher. Der Vorteil der Liveproduktion: der schlechte Klang der Streicher. Die live verwendeten Kontaktmikrofone lassen oft kaum mehr zu als Fiepen von der Güte eines Uralt-Synthesizers. Die Ungereimtheiten der Live-Version trüben Transparenz und Durchhörbarkeit, aber sie nähren den Verschmelzungsgrad zwischen den Instrumenten und den Fluggeräten. Hier gewinnen geflogene Kurven und die daraus resultierenden Verschiebungen im Rotorenklang musikalische Qualität.

Große Sprünge macht diese Musik freilich nicht. Einmal in Gang gesetzt, rollt sich das Stück in einiger Breite aus: schon nuancenreich, aber auch ein bisschen über die eigene Ingeniosität erstaunt. Irvine Arditti sitzt indessen immer noch in der Flugkabine, und zählt: „sieben, acht“. Wir wissen, wie es weitergeht. Björn Gottstein

Karlheinz Stockhausen: „Helikopter-Streichquartett“. Arditti String Quartet. Studiofassung (Montaigne/Auvidis) Moderierte Live- und Studiofassung (2 CDs) (Stockhausen Verlag, D-51515 Kürten)