Der Irland-Schottland-Komplex

■ Scottish Folk-Fans lieben das unverdorbene Leben: Heute abend ist Festival

Tausend Jahre sind ein Tag. Zumindest für deutsche Folkies. Ein scheinbar einfacheres Leben, unverdorbene Natur und womöglich sogar ungebrochene Traditionen, das lässt sich angeblich in Nordwesteuropa noch ohne das betropenhelmte Gefühl von kultureller Verunsicherung und mit dem Rest vom Schulenglisch erleben.

Diese Funktion vor allem Schottlands und Irlands als Projektionsfläche für Authezititätswünsche und als Referenzpunkt für eine ambivalenzfreie Alternativkultur entstand Anfang der 70-er Jahre paralell zum großen Aufbruch in der dortigen Folkszene. Und seither ist irische oder schottische Folkmusik ganz einfach ein Pop-Genre.

Bedient wird das große Interesse am Irland-Schottland-Komplex hierzulande äußerst üppig: von der Kelly-Family über jede nur erdenkliche Form von Kelten-Kitsch bis zu den hunderten von deutschen Folkbands, die die Irish Pubs dieses Landes bespielen. Und zwischen all dem ist manchmal sogar noch ein Blick auf die interessanteren Entwicklungen in der Trad-Szene zu erhaschen.

Gelegenheit zu einem solchen Blick gaben manchmal die jährlichen Tourneen des Irish Folk Festival und seit Beginn der Neunziger das schottische Pendant, das Scottish Folk Festival. Heute Abend tritt diese Roadshow wieder mit dem Anspruch, „in drei Stunden einen möglichst hochkarätigen und möglichst repräsentativen Einblick“ in die schottische Folk-Szene zu liefern, in der Musikhalle an.

Und in der hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Einerseits wurden durch Bands wie die Old Blind Dogs oder Capercaillie erstmals Einflüsse aus Reggae, Pop und zeitgenössischer Tanzmusik clever mit der Tradition verbunden. Neben Highland Pipes und Fiddle tauchten plötzlich aufregende Off-Beats oder gar Samples auf, ohne im keltischen Nebel zu verwabern. Andererseits wurde Anfang der Neunziger entdeckt, wie groovig die schottische Tanzmusiktradition an der kanadischen Ostküste weiterexistiert hatte.

Ein Blick auf das Programm des diesjährigen Scottish Folk Festivals allerdings zeigt, dass von neuen Entwicklungen heute Abend wenig zu hören sein wird. Und das ist beabsichtigt: „Zum Beginn des neuen Milleniums wollten wir noch einmal zeigen, welche Trends in den letzten 30 Jahren in der schottischen Musik prägend waren,“ sagt Peter Wenneholt, Initiator des Festivals. Da dürfen natürlich die Stadion-Rocker unter den kaledonischen Bands, die Battlefield Band, nicht fehlen. Tatsächlich veränderten die in den Siebzigern das Bild des Genres durch wuchtige Arrangements und Keyboard-Teppiche. Seit damals sind sie allerdings auch zwei Mal im Jahr auf Deutschland-Tour, und garantieren somit Überraschungsfreiheit. Ebenfalls jenseits seines Zenits ist der einst sehr einflussreiche Songwriter Eric Bogle, Autor von Klassikern wie „And the band played Walzing Matilda“. Nach wie vor ist der mittlerweile in Australien lebende Bogle der stereotype Protestsänger mit gelegentlichen Wehmustsanklängen und Heimweh nach Schottland. An die Zeit vor der Popwerdung der Trad-Musik erinnert The Ceilidh Band, das Familienunternehmen, das von den Eltern von Capercaillie-Mitglied Donald Shaw geführt wird. Im Stil der fünfziger und sechziger Jahre spielt diese Ceilidh-Family instrumentale Country-Dances inklusive der gefürchteten Um-Ta-Klavierbegleitung, wie sie bei den Ceilidhs, den Tanzpartys, üblich sind.

Das einzig neue im Programm ist etwas ganz altes. Von der Wiederentdeckung und -belebung der gälischen Sprache und ihrer Gesangstradition mag man halten, was man will, die klassisch geschulte Stimme der ohne Begleitung singenden Alyth McCormack passt sicherlich ins bildungsbürgerliche Ambiente der Musikhalle. Ganz im Sinne einer solchen Kanonisierung zeigt uns das Festival dieses Jahr also kaledonisches Kunsthandwerk, anstatt die Dynamik der Szene ersichtlich zu machen.

Georg Felix Harsch

heute, 20 Uhr, Musikhalle