Hoffen auf's echte Lebensrezept zwischen zwei Buchdeckeln

■ Bremens Gesundheitsforscherin Annelie Keil hat ein Buch geschrieben über Lebenssinn, Leistungsdenken, Depressionen und Kopfschmerzen: Die taz schmökerte für Sie im neuen Werk „Wird Zeit, dass wir leben“

Annelie Keil. Dieser Name ist vielen ein Begriff. Die 60-Jährige lehrt an der Universität Bremen – Schwerpunkt Gesundheits- und Krankheitsforschung. Vor kurzem hat sie ein neues Buch veröffentlicht. Der vielversprechende Titel: „Wird Zeit, dass wir leben“. Ein Appell an Suchende, die auf dem Bucheinband bunte Luftballons in den unendlich blauen Sonnehimmel schweben sehen. Wer dieses Buch liest, so die Verheißung, hebt ab – und das ins „wahre“ und somit gesunde Leben.

Der Verdacht, dass Annelie Keil auf der Esoterik-Welle schwimmt, liegt schon vor dem Aufschlagen nahe. Ein erstes schnelles Lesen überzeugt SkeptikerInnen in der Tat nicht vom Gegenteil. „Leben ist das Einstimmen in den großen Gesang“, sagt die Autorin. Oder: „Man kann das Glitzern des Wassers nicht kaufen. Das Gleiche gilt für das Leben und die Gesundheit“.

Blumige Gedanken dieser Art prägen den Stil des gesamten Werkes. Leser, die darauf mit Abwehr und Übelkeit reagieren, werden das Buch schnell zur Seite legen. Andere hingegen – nicht zuletzt die große Schar der Keil-AnhängerInnen – werden dem der psycho-esoterischen Literatur eigenen Sog nicht widerstehen können – und das Buch als Lebenshilfe annehmen.

Was uns Annelie Keil – mit esoterischem Ansatz – über Gesundheit, Krankheit, das Leben und deren Dialektik sagen will, ist nicht sehr überraschend. Die zentrale Erkenntnis der Autorin ist nämlich, dass die menschliche Existenz durch Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit geprägt ist. Dieser Erfahrung kann sich niemand entziehen. Auch Annelie Keils Biographie ist, so können wir lesen, davon beeinflusst. Von ihren Eltern zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in einem Waisenheim abgesetzt, glich ihr Dasein dem eines „heimatlosen Sterns“.

Viele Menschen reagieren auf diese existentielle Unsicherheit mit Stress- und Angstgefühlen, die dann in körperliche Symptome übergehen – also im herkömmlich schulmedizinischen Sinne krank machen. Kopfschmerzen, Schweißausbrüche, im schlimms- ten Falle Depressionen, also Lebensunlust.

Zu der Ungewissheit über Verlauf und Ausgang der Existenz gesellt sich die Sinnsuche, die viele zermürbt. Und weil das Universum in den seltensten Fällen auf die menschliche Sinnerwartung antwortet, schaffen sich die Menschen ihre eigenen Götter: Geld, Arbeit, Erfolg und Macht. Annelie Keil spricht vom Leistungs-Ich. Um die innere Leere und Angst zu narkotisieren, wird das Leben zum Jagdrevier. Herzinfarkt programmiert.

Auf der Strecke bleiben in der Leistungskultur zwangsläufig die Dinge, die gesund machen und dem Leben erst Intensität verleihen: Freundschaft, Liebe, Austausch, das gemeinsame Gestalten der Welt.

Gesundheit stellt sich für Keil nicht als diagnostizierbarer, statischer Zustand dar, sondern als eine Art Lebenskompetenz. Es ist die Fähigkeit, mit der radikal menschlichen Erfahrung von Unbestimmtheit und Nicht-Planbarkeit produktiv umzugehen, anstatt diese zu ersticken.

Doch wie das genau im Einzelnen funktionieren soll, verrät die Autorin auf ihren immerhin gut 200 Seiten allerdings nicht wirklich. Die auf ein echtes Lebensrezept hoffenden LeserInnen werden enttäuscht sein. Andere hingegen könnten wohl eher Erleichterung verspüren, dass auch Gesundheitsforscherin Annelie Keil auf die letzten Fragen der Existenz keine rechte Antwort hat.

Tanja Vogt