■ Italien, Frankreich und Großbritannien befinden sich im Griff des Influenza-Virus, in Deutschland ist die große Grippewelle bisher ausgeblieben. Auch wenn die Schlagzeilen vom „Killer-Virus“ übertrieben sind: Wirklichen Schutz dagegen gibt es nicht – denn
: Grippe ist uralt und unberechenbar

Ein Kühlwagen wird zur provisorischen Leichenhalle, Krankenhäuser sagen wichtige Operationen ab, einem Tenor versagt im ersten Akt von Aida die Stimme. In der Zeitung stehen Krankengeschichten und Todeszahlen. Eastbourne, London, Parma, Berlin: „A/Moskau/10/99 H3 N2“ ist der heimliche Herrscher im Alltag der Europäer geworden. Die gefürchtete Grippe ist da.

In dieser Saison macht die sogenannte Moskau-Variante die Runde. Nach Russland meldete England erste Krankheitsfälle, Italien und Frankreich folgten – seit Mitte November grassiert das Virus auch in Deutschland. Die Arbeitsgemeinschaft Influenza beim deutschen Grünen Kreuz (AGI) kann die Zahlen der Erkrankten nur schätzen. Die Krankheit muss nicht gemeldet werden. Rund 600 Arztpraxen melden wöchentlich dem Marburger Institut die Statistik ihrer akut atemwegserkrankten Patienten. In dieser Woche haben im Schnitt 15 von 100 Patienten wegen akuter Atemwegssymptome einen Arzt aufgesucht – Mitte November waren es etwa 11. Hochgerechnet erkrankten in der Bundesrepublik seit letztem Montag 500.000 Menschen mehr an Schnupfen und Husten, als „ohne Influenzaaktivität derzeit zu erwarten wäre“, sagt Helmut Uphoff von der AGI. „Trotzdem ist noch keine allgemeine Grippewelle in Sicht“, glaubt Uphoff. Eine Vorhersage wagt der Epidemiologe aber lieber nicht.

Zu unberechenbar ist das Virus, es schlummert an zu vielen Orten. Keine andere Krankheit bricht so schnell aus wie die Influenza. Doch selbst wenn die Grippe sich in Nordrhein-Westfalen in der kommenden Woche zu einer richtigen Welle hochschauckeln sollte, heißt dies noch lange nicht, dass auch in Brandenburg die Kliniken Sonderschichten einlegen müssten. Die reißerischen Schlagzeilen von der „Killer-Grippe“ und dem „Todes-Virus“ hält Uphoff für „maßlos übertrieben“.

Grippeviren suchen sich vornehmlich Wirtsleute mit geringer Immunabwehr: chronisch Kranke, Ältere, geschwächte Kinder. Rasend schnell verbreiten sie sich über Tröpfchen, die beim Husten und Niesen millionenfach veschleudert werden. Die ersten Symptome stellen sich bald ein: Fieber und Kopfschmerzen lassen nur drei Stunden, manchmal auch drei Tage auf sich warten.

Eine Influenza ist kein grippaler Infekt und alles andere als eine harmlose Erkältung. Während bei einer Erkältung der Schnupfen stark ist und die Muskelschmerzen mild, schmerzen Gelenke und Muskeln bei einer Grippe heftigt, nicht selten steigt das Fieber auf 39 Grad und höher. Auch eine ungewöhnliche Abgeschlagenheit und schlimmer Husten gehören dazu. Häufig aber sind die Unterschiede zur Erkältung nicht deutlich abzugrenzen. Letztlich kann nur eine Laboruntersuchung zeigen, ob es sich wirklich um die gefürchtete Krankheit handelt. Epidemiologen schätzen, dass sich bei einer Grippewelle etwa 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung vom Virus anstecken. Doch zeigt höchstens jeder zweite Infizierte überhaupt entsprechende Symptome. „Und nur der allerkleinste Teil der Betroffenen entwickelt eine echte Krankheit“, sagt Uphoff.

Die Grippe ist uralt. Das ganze Jahre über schwirrt das Virus durch die Luft – überall auf der Welt. Richtig aktiv wird der Erreger aber nur in der kälteren Jahreszeit. In Südostasien tritt die Influenza zur Monsunzeit auf, ab Spätherbst vermehrt in Europa. Warum sie vornehmlich im Winter ausbricht, haben Wissenschaftler bisher noch nicht herausgefunden. Sie rätseln. Vielleicht stabilisieren niedrige Temperaturen das Virus. Klar ist, dass Menschen in geschlossenen Räumen dem Erreger viele Kontaktmöglichkeiten verschaffen. Vielleicht spielt es eine Rolle, dass der lichtarme Winter das Immunsystem der Menschen zu sehr schwächt – wahrscheinlich schafft erst die Kombination ideale Ausbruchsbedingungen.

Im vergangenen Winter starben in Deutschland etwa 15.000 Menschen an den Folgen der Grippe. Allein in Westeuropa, USA und Japan erkranken jährlich etwa 120 Millionen Menschen. Alle zehn Jahre kommt es zu einer echten Epidemie, die letzte trat 1997 in Deutschland auf. Alle 25 bis 30 Jahre kommt es zu einer weltweiten Epidemie, zur sogenannten Pandemie. Die Uhr tickt: Die letzte Pandemie liegt mehr als 30 Jahre zurück. Im Winter 68/69 starben weltweit etwa eine Million Menschen an der Hongkonggrippe. Verheerend waren auch die Folgen der Spanischen Grippe, die zwischen 1918 und 1919 wütete. Zweimal ging die Influenzawelle um die Welt. Die Grippe forderte mindestens 25 Millionen Tote, dreimal mehr als im ersten Weltkrieg starben.

Die kugelförmigen Viren sind genetische Chamäleons. Sie schaffen es immer wieder, ihre Eiweißhülle so zu verändern, dass es dem Menschen nicht gelingen kann, ausreichenden Schutz dagegen aufzubauen.

Jedes Jahr im Februar legt die Weltgesundheitsbehörde (WHO) fest, wie der Impfstoff für die kommende Saison zusammengesetzt sein soll. Sie stützt sich dabei auf Erfahrungen der laufenden Periode. Da das Virus zwar seine Hülle, nicht aber den Kern ändert, sind die WHO-Vorgaben meist passend. Trotzdem wird das Serum zu Beginn einer jeden neuen Grippesaison knapp, weil die Hersteller sich in der Menge der benötigten Ampullen irren. Leider ist es noch nicht möglich, Serum nach Bedarf zu produzieren. Für die Herstellung werden volle sechs Monate benötigt. Vorgestern wurden für den deutschen Markt noch einmal 500.000 Ampullen freigegeben – vermutlich waren es die letzten für diesen Winter.

Zum Leidwesen von Krankenkassen und Unternehmen lassen sich gerade einmal 17 Prozent der Bundesbürger rechtzeitig im Herbst gegen die Grippe impfen. Die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) beziffert den „volkswirtschaftlichen Schaden“ einer Grippewelle auf rund 5,3 Milliarden Mark. Allein für Arztbesuche, Medikamente und schwerwiegende Komplikationen wie Herzmuskel- oder Lungenentzündung, die in einer Klinik kuriert werden müssen, geben die Kassen 900 Millionen Mark aus. Im vergangenen Winter kam es zu zwei Millionen Fällen von Arbeitsunfähigkeit – verursacht durch den Einfluss der Influenza.

Annette Rogalla