Mit 15 ins wilde Kurdistan

■ Verdens Oberkreisdirektor zeigt Verständnis für rechtswidriges Hintergehen des Vormunds, möchte aber künftig selbst über Rechtsbrüche entscheiden

Verden – Die 15-jährige Sevim D. lebt mit ihren Geschwistern in Verden. Ihr sieben Jahre älterer Bruder Lokman hat die Vormundschaft, da die Eltern im türkischen Teil Kurdistans leben. Zwischen den Geschwistern kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen. Sevim klagt bei ihren Lehrerinnen verschiedentlich, der junge Familienvorstand behandle sie schlecht. Auf ausdrücklichen Wunsch des Mädchens suchen diese nicht das Gespräch mit dem Bruder. Mehrfach äußert Sevim den Wunsch, zu ihren Eltern in die Türkei zurückzukehren. Schließlich wendet sich eine Lehrerin an die Ausländerbehörde des Landkreises. Die informiert ebenfalls nicht den Vormund, sondern das Jugendamt.

Die zuständige Mitarbeiterin spricht zunächst mit der Lehrerin. Daraufhin macht sie einen Hausbesuch bei der Familie und findet „ordentliche“ Wohnverhältnisse vor. Als das Jugendamt einen gemeinsamen Gesprächstermin mit dem Mädchen und der Lehrerin anberaumen will, ist Sevim verschwunden. Die Ausländerbehörde hat ihre Ausreise organisiert. Nur zehn Tage nachdem die 15-Jährige erstmals selbst vorstellig wurde, bekam sie ein Flugticket nach Ankara und 250 Mark für die Busreise in ihren kurdischen Heimatort Nusaybin. Vorher musste sie unterschreiben, dass sie auf die Fortführung ihres Asylverfahrens verzichtet.

Das war vor einem Jahr. Lokman D. vermisste seine Schwester damals die ganze Nacht. Erst am nächsten Tag teilte ihm das Ausländeramt die Ausreise von Sevim mit. Aus Sorge um seine eigene Lage und die der weiteren Geschwister ist Lokman D. damals nicht rechtlich gegen die Ausländerbehörde vorgegangen. Erst als ihn im November 1999 ein Brief von Sevim erreichte, suchte er rechtlichen Beistand. Laut dem Schreiben muss die inzwischen 16-Jährige für sich und ihre kranke Großmutter allein sorgen. Die Mutter wurde inhaftiert, der Vater verbüßt bereits seit 1994 eine lebenslange Haftstrafe wegen PKK-Aktivitäten.

Vor diesem Hintergrund hat D. nun Strafanzeige gegen den Leiter der Ausländerabteilung im Verdener Ordnungsamt, Gerd Depke, gestellt: Wegen Kindesentziehung. Doch der war nicht allein verantwortlich: Amtsleiter Günther Schacht hat den Fall damals geprüft und der rechtswidrigen Übergehung des Vormundes bewusst zugestimmt. Auch die zuständige Dezernentin Silke Meyn war informiert. Laut Schacht war es das oberste Ziel, den Vormund nicht zu informieren, damit er nicht mehr eingreifen könnte. Schließlich sei das Mädchen zu seiner Mutter gereist. Das hat die Behörde allerdings nie überprüft. Man verließ sich hier ganz auf die Angaben der damals 15-Jährigen, sie stünde in regelmäßigem Kontakt mit ihrer Mutter. Auch über die Risiken der Reise war man sich im Ordnungsamt offensichtlich nicht im Klaren. Noch heute behauptet Amtsleiter Schacht, Nusaybin liege gut 100 Kilometer von Ankara entfernt. Tatsächlich liegt Sevims Heimatort über 1.000 Kilometer südöstlich der türkischen Hauptstadt.

Oberkreisdirektor Werner Jahn will aber nicht den Stab über seine Mitarbeiter brechen: „Hier ist ein formaler Fehler im Sinne des Kindeswohls begangen worden. Darin sehe ich Entschuldigungsgründe“, wiegelt er ab. Statt disziplinarischer Maßnahmen will Jahn es bei einer Ermahnung an seine Mitarbeiter belassen, künftig geltendes Recht zu beachten. In ähnlichen „Konfliktfällen“ möchte er „Gewissensentscheidungen“ in Zukunft lieber selbst fällen. Einen grundsätzlichen Verzicht auf ein rechtswidriges Vorgehen hinter dem Rücken des Vormundes wollte gestern aber auch Jahn nicht erklären. Sicher ist er sich dagegen, dass er Sevim D. trotz der illegalen Ausreise nicht, wie vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat gefordert, zurückholen kann: „Eine Einreise zum Zweck der Durchführung eines Asylverfahrens schließt das Gesetz aus.“ not