Familienkrach unter den Reinkarnationen

Seit der Karmapa aus China floh, ist in der tibetischen Gemeinde der Teufel los. Rivalisierende Mönche werfen dem 14-Jährigen Betrug und Kollaboration mit Peking vor

Berlin (taz) – Die Flucht des 17. Karmapa aus dem von China kontrollierten Tibet nach Indien bringt den Streit in der tibetischen Exilgemeinde ans Licht. Denn der 14-jährige Karmapa Ugyen Trinley Dorje wird zwar als dritthöchster Würdenträger im tibetischen Buddhismus sowohl vom Dalai Lama als auch von Chinas Regierung anerkannt, nicht aber von einer Minderheit seiner Karma-Kagyu-Schule. Diese ist die zweitstärkste der vier Glaubensrichtungen des tibetischen Buddhismus und besonders im Exil stark und wohlhabend.

Für einige Karma-Kagyu-Schüler ist der bereits seit 1994 in Indien lebende Thaye Dorje, also ein zum Rivalen des Geflohenen aufgebauter Junge, die wahre Reinkarnation des Karmapa. Der 16-Jährige reist zur Zeit durch Europa. Anfang Januar meditierte er in Düsseldorf mit angeblich 6.000 Anhängern. Am 3. Februar soll er in München auftreten. Seine Anhänger bezeichnen den zum Jahreswechsel aus Tibet geflohenen Ugyen Trinley Dorje abfällig als „Pekings Karmapa“.

Besonders negativ über den geflohenen 14-Jährigen äußert sich der bei Delhi im Exil lebende Shamar Rimpoche, ein Neffe des verstorbenen 16. Karmapa und einer von dessen vier Linienhaltern oder Stellvertretern. Shamar hatte das Votum seiner Kollegen von 1992 bei der Suche nach der Reinkarnation letztlich nicht anerkannt und 1994 mit Thaye Dorje eine eigene Wiedergeburt präsentiert.

Shamar hält Ugyen Trinley Dorjes Flucht für vorgetäuscht. Dieser hätte nicht ohne Chinas Wissen aus dem gut bewachten Kloster entkommen können. Shamar forderte Indiens Regierung daher auf, Karmapa kein Asyl zu gewähren. „Die indische Regierung sollte niemanden unterstützen, der direkte Verbindungen zu Peking hat.“

Shamars Gegenspieler ist Situ Rinpoche, auch er ein Linienhalter des verstorbenen 16. Karmapa. Er war maßgeblich an der Auswahl von Ugyen Trinley Dorje als dessen Wiedergeburt und der Bestätigung sowohl durch den Dalai Lama als auch von Peking beteiligt. Das löste Shamars Zorn aus. Er streitet dem Dalai Lama als höchstem Vertreter der Gelug-Schule das Recht ab, überhaupt über religiöse Fragen der älteren Karma-Kagyu-Schule zu entscheiden. Der Dalai Lama sei zwar das politische Oberhaupt aller Tibeter, aber geistiger Führer nur der Gelug-Schule. Pekings Anerkennung des Karmapa wertet Shamar als bedenklichen Präzedenzfall.

Im Machtkampf der Linienvertreter gelang es Shamar, seinen Widersacher Situ wegen dessen angeblicher Nähe zu Peking zwischen 1994 und 1998 in Indien zur unerwünschten Person erklären zu lassen. Shamar scheiterte jedoch 1993 bei dem Versuch, das Kloster Rumtek in dem zwischen China und Indien gelegenen Sikkim zu übernehmen. Dabei kam es sogar zur Gewalt innerhalb der Exilgemeinde. Rumtek war der Sitz des 16. Karmapa nach dessen Flucht aus Tibet. Seine dort lagernden Insignien und Reichtümer werden auf einen Gesamtwert von 1,2 Milliarden US-Dollar geschätzt. Das Fürstentum Sikkim wurde 1975 von Indien annektiert, was China bis heute nicht anerkennt.

Als Peking die jetzige Flucht des Karmapa Ugyen Trinley Dorje als Auslandsreise zur Rückholung ritueller Gegenstände deklarierte, wurde dies in Teilen der indischen Öffentlichkeit prompt als chinesischer Anspruch auf Sikkim gewertet. In Indien ranken sich um die Flucht des Karmapa wüste Verschwörungstheorien. Von Shamar und seinen Anhängern bearbeitete Medien und Politiker warnen davor, dem Ugyen Trinley Dorje zu erlauben, sich in Rumtek niederzulassen. Dessen Anhänger werfen Shamar vor, sich selbst einen Teil des Vermögens des 16. Karmapa und seines Klosters angeeignet zu haben.

Die Regierung in Peking ist der lachende Dritte. Selbst wenn Indien als Ergebnis des Konfliktes nicht den Bewegungsspielraum des geflohenen Karmapa einengen sollte, diskreditiert und schwächt der Streit die Tibeter.

Sven Hansen