Das Bad in der Menge ist ihm derzeit zu heiß

Was immer Volker Rühe sagt – im Zusammenhang mit der CDU-Spendenaffäre kann Schleswig-Holsteins Spitzenkandidat zur Zeit keine gute Figur machen. Das weiß Wahlkämpfer Rühe. Und so umschifft er diese Klippen und redet über Schleswig-Holstein, über Bildung, Arbeitsplätze und Verkehrsanbindung, schimpft auf Rot-Grün, bedient die Medien. Den Menschen geht er aus dem Weg ■ Aus Flensburg Bettina Gaus

Volker Rühe im Regen. Mit Kindern. Mit Frauen in Tracht. Ein Leuchtturm. Volker Rühe mit Ziehharmonika. Mit Kühen. Mit jungen Männern. Das Holstentor in Lübeck. Segelboote auf dem Meer. Volker Rühe segelt. Volker Rühe lacht, argumentiert, zeigt irgendwohin, blickt sinnend in die Ferne. Ein Kämpfer und sein Land. Ganz allein. Hat der Mann keine Partei? Und gar keine Freunde? Doch, schon. Aber die eignen sich derzeit nicht so gut für Werbezwecke. Die CDU und ihre Führungsspitze kommen in der Diashow nicht vor, die das Publikum von Rühes Wahlveranstaltungen in Schleswig-Holstein auf die unmittelbar bevorstehende Ankunft des Spitzenkandidaten einstimmen soll. Der ehemalige Ehrenvorsitzende Helmut Kohl auch nicht.

Der hat vor ein paar Wochen Volker Rühe zu einem Auftritt nach Lübeck begleitet, und damals dankte ihm der Kandidat noch artig dafür, dass Kohl auch „bei Gegenwind“ den Weg dorthin gefunden habe. Inzwischen ist aus dem Wind eine beißende Duftwolke geworden. Jetzt bezeichnet der CDU-Herausforderer im Wahlkampf die Distanzierung vom Altbundeskanzler als „notwendig“. Rühe spricht vor vollen Sälen, in denen selbst Stehplätze knapp werden und wo der Brandschutz beide Augen zudrücken muss. Aber es sind nicht allein, vielleicht nicht einmal überwiegend CDU-Anhänger, die zu seinen Veranstaltungen drängen. „Ich will nur mal hören, was er zu sagen hat“, meint ein ehemaliger Bundeswehroffizier, der in Uetersen ganz vorne im Festsaal der Gaststätte „Zur Erholung“ sitzt. Was Rühe jedoch auch immer sagen wird – im Zusammenhang mit der Spendenaffäre kann der ehemalige CDU-Generalsekretär in den Augen des 62-Jährigen keine gute Figur machen: „Es gibt zwei Möglichkeiten. Wenn er nichts gewusst hat, hat er seinen Laden nicht im Griff gehabt. Wenn er es gewusst hat, dann hat er auch gelogen.“

Mit der Bundespolitik kann der CDU-Spitzenkandidat derzeit nicht punkten, und er weiß es. So redet er denn über das Land: Bildung, Arbeitsplätze, Verkehrsanbindung. „Es geht um Schleswig-Holstein. Es geht um unser Land Schleswig-Holstein, und die Schleswig-Holsteiner dürfen nicht betrogen werden um ihre Chancen, sich lösen zu können von Rot-Grün.“ Wer betrügt sie denn? Worum? Und wie? Egal. Die Sätze kommen gut an. Der Beifall, bis dahin bestenfalls freundlich, wird herzlich und schließlich kämpferisch. Gut gelaufen.

„Wenn er es gewusst hat, hat er auch gelogen“

Aber „gut gelaufen“ bedeutet auf Veranstaltungen wie diesen schon, dass mehr als die Hälfte der Anwesenden klatscht. Auf stehende Ovationen und rhythmischen Beifall, wie sonst in Wahlkämpfen üblich, muss Rühe verzichten. „Zwei Drittel“ seien nur aus Neugierde hierher gekommen, schätzt ein 51-jähriger Bautechniker in der überfüllten Brauerei in Schleswig. Er selber will die CDU keinesfalls wählen. „Wenn Sie im Supermarkt einkaufen und an einem Tag gammeliges Gemüse bekommen und am nächsten Tag wieder und in drei Wochen wieder, dann kann der Verkäufer noch so nett sein, dann hilft das auch nichts mehr.“ Hier hat der Verkäufer allerdings nicht mal die Chance, nett zu sein. Allzu lange hat die dramatische Krisensitzung der CDU-Spitzengremien in Berlin gedauert. Rühe schafft es nicht rechtzeitig. Er habe eine Propellermaschine chartern wollen, muss Landtagskandidatin Caroline Schwarz dem enttäuschten Publikum mitteilen, „obwohl er vor nichts so viel Angst hat, wie damit zu fliegen“. Aber es sei keine aufzutreiben gewesen. „Wir können hinterher ein Telefoninterview mit ihm machen.“ Ein schwacher Trost.

Als ob nicht ohnehin genügend Fallgruben auf dem Weg lauerten. Manche lassen sich umgehen, indem man neue Akzente setzt. Volker Rühe spricht auf seinen Veranstaltungen über die notwendige Solidarität mit Polizisten ebenso ausführlich wie auch andere CDU-Politiker schon seit Jahr und Tag. Aber im Unterschied zu früheren Zeiten ist bei ihm nicht mehr die Rede davon, dass es „null Toleranz“ gegenüber Kriminellen geben dürfe. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, und böse Zwischenrufe müssen nicht unnötig provoziert werden. Ohnehin hat der Kandidat Grund zur Freude darüber, dass das Publikum allem Interesse zum Trotz taktvoll nur selten nach der Spendenaffäre fragt und sich im Allgemeinen auf landespolitische Themen beschränkt.

Was aber lässt sich gegen die Arglosigkeit von Verbündeten machen? Hubertus Graf Luckner wird als Verwalter der örtlichen Klosterländereien und wohl auch des klangvollen Namens wegen als Gesprächspartner zu Rühe auf die Bühne in Uetersen gebeten. Er erzählt von Problemen des ländlichen Raumes, die gerade auch ihn als Freizeitjäger beträfen: „Ich rede hier von Landschaftspflege.“ Hat jemand gelacht? Rühe verzieht keine Miene. Dass dieser Begriff seit den Tagen des ehemaligen Flick-Managers von Brauchitsch zu einem geflügelten Wort im Zusammenhang mit Parteispenden geworden ist, scheint dem größten Teil des Publikums nicht bewusst zu sein. Glück gehabt.

Ein CDU-Politiker, der Ministerpräsident werden will, braucht viel Glück in diesen Tagen. Welche Erfolge aus glanzvolleren Tagen dürfen überhaupt noch erwähnt, welche sollten besser verschwiegen werden? „Stellen Sie sich mal vor, es hätte vor einem Jahr eine CDU in dem Zustand von heute gegeben“, sagt Rühe in Uetersen mit sorgenzerfurchter Stirn. „Wir hätten eine wichtige Entscheidung mit verheerenden Konsequenzen wahrscheinlich nicht verhindern können.“ Mit der wichtigen Entscheidung ist die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts gemeint. Seinerzeit war Rühe selbst ein Gegner der Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft gewesen, die seine Partei bei den Landtagswahlen in Hessen an die Macht gebracht hat. Was soll’s. Der Sieg hat viele Väter. Dennoch lässt der Kandidat am nächsten Abend in Flensburg das Thema weg. Hat ihm jemand gesagt, dass ausgerechnet der Erfolg der hessischen Parteifreunde derzeit vielleicht kein Anlass für laute Freude sein sollte? Ist er selber darauf gekommen? Oder fürchtet er, anwesende Journalisten könnten den Hinweis auf die kostspielige Kampagne als allzu dreist bewerten?

Es sind ja immerzu Journalisten dabei. Volker Rühe tingelt. Termine im Zwei-Stunden-Takt: Um 16 Uhr eine Podiumsdikussion beim Landesfrauenrat in Rendsburg, um 18 Uhr ein Auftritt im Hotel „Ritzebüttel“ in Notorf. Um 20.30 Uhr muss er dann in der Gymnastikhalle in Heikendorf sein. Aber noch in der tiefsten Provinz steht er im Scheinwerferlicht. Eine Meldung ist es allemal.

Volker Rühe scheint die Medienbegleitung nicht unwillkommen zu sein. Die kennt der ehemalige Verteidigungsminister, damit weiß er umzugehen. Das Bad in der Menge liegt ihm weniger. Was soll er mit den Leuten denn reden? „So, habt ihr genug Material, ja“, sagt er wohlwollend zu einem jungen Mann, der sich ihm mit einigen Faltblättern in der Hand nähert. Der schaut verblüfft. Aber bevor er antworten kann, ist der Kandidat schon weg. Eine alte, gehbehinderte Frau ruft ihm drängend nach: „Herr Rühe, Herr Rühe!“ Er hört sie nicht, und sie kann mit seinem strammen Schritt nicht mithalten. Auf der Bühne scheint er den Wechsel von der großen, weiten Welt in die Provinz mühelos bewältigt zu haben. Ist die Show vorbei, wirkt er gelangweilt.

Medien sind dem Kandidaten, der sehr viel mehr Erfahrung mit der Bundes- als mit der Landespolitik hat, allemal wichtiger als die Zuschauer vor Ort. Schleswig also verpasst und im Flensburger Einkaufszentrum „Holm Passage“ mehr als eine Stunde Verspätung. Eine endlos scheinende Zeit für die Moderatorin, deren Aufgabe es ist, Rühe zu unterstützen und die nun das Publikum gemeinsam mit einigen lokalen Größen bei Laune halten soll. Endlich – da ist er. Fanfarenstoß vom Band. Fehlanzeige. Doch nicht. „Ist irgendwie absehbar, wann der Herr nun kommt?“, fragt die Moderatorin entnervt. Dann: „Volker Rühe, die zweite.“ Neuerlicher Fanfarenstoß. Wieder nichts. Der dritte Fanfarenstoß ist der größte Lacherfolg des Abends. Ein Gerücht macht die Runde: „Der gibt erst noch Interviews.“ Das Gerücht erweist sich als zutreffend. Die Moderatorin ist verzweifelt: „Er ist von Journalisten umlagert und kann sich offenbar nicht durchdrängen.“ Und dieser Mann will Schleswig-Holstein retten? „Vielleicht geht mal jemand nach vorne und sagt ihm, dass die Leute hier seit über einer Stunde warten.“ Das weiß er. Aber er hat die Interviews per Handy vom Auto aus telefonisch zugesagt. Man muss halt Prioritäten setzen. Vierte Fanfare. Nun kommt er.

Gelacht haben auch einige Mitglieder eines ländlichen CDU-Bezirksvorstands, die Anfang Februar eine Veranstaltung mit Volker Rühe planen und mal schauen wollen, wie so etwas geht und welche Fehler besser vermieden werden sollten. Dort wird es wohl wenigstens keine Fanfarenstöße geben. Aber die Aktivisten an der Basis machen sich wenig Illusionen – selbst wenn es ihnen gelingen sollte, derart offenkundige professionelle Fehler zu vermeiden. „Bei den Jüngeren, also bei der Jungen Union, gibt es so eine Haltung: Jetzt erst recht“, erzählt die Landwirtin Hilke Thomsen. „Aber von den Älteren sind viele sauer und werden wohl gar nicht erst zur Wahl gehen.“ Die 34-Jährige war selbst nie in Versuchung, nicht mehr CDU zu wählen –„aber den Fernseher auszumachen“.

„Ich habe lange versucht, alles zu erklären, aber irgendwann ist mal Schluss“, sagt ihre Kollegin Gisela Lorenzen. „Wir an der Basis sind aber anders. Wir haben mit dem, was die da oben machen, nichts zu tun.“ Kurze Pause. „Das sage ich auch, um mich selber aufzurichten.“ Sie lacht unsicher.

„Ich habe lange versucht, alles zu erklären“

Verunsichert sind derzeit viele in der CDU. Ein Funktionär aus Flensburg, dessen Name und Funktion auf einem kleinen Schild an seiner Brust prangen, ist enttäuscht, dass der Parteivorsitzende Wolfgang Schäuble nicht zurückgetreten ist: „Wir brauchen einen richtigen Neuanfang.“ Namentlich zitieren lassen aber will er sich mit dieser Äußerung nicht. „Dazu bin ich nicht autorisiert.“ Wer hätte ihn denn autorisieren können? Schäuble? Es kann keinen großen Spaß machen, in diesen Wochen als CDU-Politiker einen Wahlkampf bestreiten zu müssen. Dennoch wirkt Volker Rühe weit fröhlicher als noch vor ein paar Wochen. Liegt es daran, dass ihm eine Niederlage kaum persönlich anzulasten sein dürfte, da die Partei in bundesweiten Umfragen inzwischen auf 29 Prozent abgestürzt ist? Oder meint er es ernst, wenn er sagt: „Ich glaube ja immer noch an meine Chance.“?

Vielleicht hat er Recht, daran zu glauben. Der CDU-Spitzenkandidat bekämpft einen einzigen Gegner: die Grünen. Die Ministerpräsidentin Heide Simonis erwähnt er kaum je, die SPD nur selten. „Rot-Grün“ schmilzt bei ihm auf ein einziges Wort zusammen – mit Betonung auf der letzten Silbe. Die Grünen sind für den „verfassungsfeindlichen Zwitter“ der Ökosteuer verantwortlich, sie haben den aus seiner Sicht notwendigen Ausbau einer Autobahn blockiert. Mitglieder aus ihren Reihen haben an „gewalttätigen“ Demonstrationen gegen Rekrutengelöbnisse auf öffentlichen Plätzen teilgenommen. „In der Stunde der Gefahr haben sie versagt“, sagt Rühe mit Blick auf die Havarie der „Pallas“. Wenn er den grünen Umweltminister „weinerlich“ nennt, klatschen auch diejenigen, die ihre Hände sonst ruhen lassen.

Aber treten denn die Grünen überhaupt an bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein? Doch, wohl schon. Hat nicht Außenminister Joschka Fischer gerade eine Afrika-Reise verschoben, um dort ein paar Mal aufzutreten? Ja, das war zu hören. Oder ist das ein Missverständnis? Am Straßenrand in den Dörfern und Kleinstädten zwischen Hamburg und Flensburg stehen nur Plakate von CDU und SPD. Vor der Brauerei in Schleswig haben sich ein paar versprengte Jusos eingefunden, die Flugblätter verteilen. Der CDU-Spitzenkandidat setzt auf das Prinzip Hoffnung. Die FDP stehe ganz gut da. „Die Grünen sind noch längst nicht über fünf Prozent.“ Volker Rühe hat die Wahl noch nicht verloren.