Pfeifen, bis der Arzt kommt

Palmen, Cuba libre und Son. Unter diesen Schlagwörtern kennt man Kuba. „Das Leben ein Pfeifen“ heißt der neue Film von Fernando Pérez, der einzige, der in jüngster Zeit in Kuba produziert wurde und gerade in den deutschen Kinos angelaufen ist. Der symbolstarke Streifen handelt von Heimatliebe und Exil, Glücksuche und der Angst vor Freiheit, dem wahren Kuba Von Volker Kull

Vielleicht ist einigen noch die Szene aus dem Film „Buena Vista Social Club“ von Wim Wenders im Gedächtnis: Omara Portuondo, die bekannte kubanische Sängerin, und der durch seine Mitwirkung am gleichnamigen Musikprojekt bekannt gewordene Ibrahim Ferrer schlendern singend durch eine Straße in der Altstadt Havannas. In den Haustüren stehen Landsleute, lauschen ihren Gesangskünsten, lachen fröhlich und winken ihnen zu. Das Leben heißt Pfeifen und Singen in Kuba. Und: arm, aber glücklich. Dieses exotisch-folkloristische Bild poetischer Armut bestimmt unsere Vorstellungen von Kuba und liegt zweifellos auch dem Erfolg des Films von Wim Wenders zugrunde. „Das Leben ein Pfeifen“, La vida es silbar. So heißt der aktuelle Film des kubanischen Filmemachers Fernando Pérez. Im Unterschied zu Wim Wenders touristischem Blick auf Kuba beschreibt Pérez die sozialen und psychischen Widrigkeiten mit poetischer Kraft und einer liebevollen Ironie, die typisch ist für viele Filme des kubanischen Kinos.

Doch das Leben auf Kuba ist eben nicht nur Pfeifen und Singen, wie uns Wenders und die Musikindustrie im vergangenen Sommer weismachen wollten. Dies hatte der Regisseur selbst im Frühjahr 1998, kurz vor Beginn der Dreharbeiten seines Films, befürchten müssen, als sich nach einer Parteitagsrede Fidel Castros wieder einmal eine Verschärfung der kulturpolitischen Richtlinien abzeichnete. Damals verdammte der máximo líder den letzten Film von Tomás Gutiérrez Alea, „Guantanamera“, als konterrevolutionär. Die Rede Fidel Castros entsprach, wie es kürzlich Daniel Díaz Torres, Regisseur des einzigen der Zensur zum Opfer gefallenen Films der letzten Jahre („Alicia im Dorf der Wunder“, 1991) ausdrückte, einer „alten Diskussion zwischen Politikern und kubanischen Filmschaffenden, die nie beendet sein wird“. Einer Diskussion, für die es keine Regeln gibt, „außer der, dass Filme nicht konterrevolutionär sein dürfen. Wo aber beginnt ein Film konterrevolutionär zu sein?“

Auch wenn die innenpolitische Situation angespannt ist – seit 1999 werden wieder verstärkt Oppositionelle verhaftet –, blieben die Worte Fidel Castros ohne Konsequenzen sowohl auf die Filmpolitik als auch konkret auf die Arbeiten zu „Das Leben ein Pfeifen“. Trotz der zahlreichen kritischen Anspielungen konnte der Film unbehelligt von staatlicher Einflussnahme gedreht werden.

„Das Leben ein Pfeifen“, die einzige kubanische Filmproduktion des Jahres 1998, handelt vom Leben dreier Menschen im zeitgenössischen Havanna und von ihrer Suche nach dem persönlichen, privaten Glück. Mit kritischem Blick führt der Film die Zuschauer in die Welt der cubanidad, der aktuellen Befindlichkeit kubanischer Identitäten im zehnten Jahr des período especial, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von Fidel Castro ausgerufenen wirtschaftlichen Sonderperiode. Wer es nicht längst wusste, erfährt nun von Fernando Pérez, dass die großen Ideen, mit denen die Revolution in den Sechzigerjahren gestartet war, spätestens innerhalb der vergangenen Dekade wenn nicht gänzlich gescheitert, so doch in eine tiefe Krise geraten sind.

Bereits die Anfangssequenz setzt eines der zentralen Erzählmotive des Films ins Bild: Nachdem die große Aufbruchstimmung, während der die „Kinder der Revolution“ im Waisenhaus zur Musik von Beny Moré und Bola de Nieve tanzten, einige Jahre später durch das kollektive, stakkatohafte Einüben der offiziellen Parole „Gleich-heit“, I-gual-dad, abgelöst wurde, war es mit dem schönen Leben vorbei. Wer nicht in diesen Chor einstimmte, sondern wie Bébé (Ana Victoria Pérez), die gute Fee und allwissende Erzählerin der Geschichte, weiterhin nach seiner eigenen Melodie tanzte, wurde aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Früher oder später ist es wichtig, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen, ansonsten passiert es, „während man mit anderen Dingen beschäftigt ist“, wie ein Taxifahrer, John Lennon zitierend, sagte. Sei es Elpidio Valdés (Luis Alberto Garcia), der jahrelang vergeblich auf ein Zeichen seiner Mutter Cuba (!) wartet, sei es Mariana (Claudia Rojas), die talentierte Tänzerin, die sich nicht zwischen dem Ballett und der Liebe zu Iván entscheiden kann, oder Julia (Corelia Veroz), die vorbildliche Altenpflegerin, deren Selbstzweifel sie daran hindern, mit Dr. Fernando, ihrem Psychologen, das Land zu verlassen. Die Unfähigkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist allen drei Protagonisten gemeinsam. Als Spannungsmoment durchzieht es den gesamten Film und führt direkt zum zweiten zentralen Erzählmotiv, das zugleich das große Thema der kubanischen Filme der Neunzigerjahre fortsetzt: die Ambivalenz der KubanerInnen zwischen Heimatliebe und Exil.

Menschen sind eben keine Schnecken. Die sind nämlich, wenn man einem weiteren Filmzitat Glauben schenkt, „die perfektesten Tiere der Welt. Sie können im Ausland leben, ohne sich nach ihrer Heimat zu sehnen.“ Dieser Satz eines Rikschafahrers trifft den Nerv der kubanischen Zuschauer, wie ihr wissendes und zugleich bitteres Lachen an dieser Stelle während einer Vorführung in Havanna zeigte. Trotz ihrer großen Heimatverbundenheit nutzen KubanerInnen Auslandsreisen nicht selten dazu, der Insel den Rücken zu kehren.

Fernando Pérez ist der Wahrheit verpflichtet. Er setzt damit die Tradition der kubanischen Filmemacher fort, die es seit Beginn der Revolution verstanden haben, näher am Alltag der Bevölkerung zu sein als andere staatlich kontrollierte Medien wie Presse oder Fernsehen. Kurz bevor sich der Film seinem Höhepunkt nähert, macht Dr. Fernando, das filmische Alter Ego von Pérez, seiner Patientin Julia unmissverständlich deutlich, dass es sich bei ihren Ohnmachtsanfällen nicht um ein individuelles, sondern um ein kollektives Phänomen handelt. Er führt ihr vor Augen, woran ihre Landsleute leiden. Opportunismus, Doppelmoral, Angst vor Freiheit, vor der Wahrheit. Um alle Zweifel auszuräumen, fügt er hinzu: „Es sind nicht die Worte, vor denen die Menschen Angst haben, sondern die Ideen.“

Trotz dieser gesellschaftskritischen Anspielungen gelingt es Fernando Pérez aber immer wieder, den Bogen zu einer philosophischen Betrachtung des Lebens zu spannen. Wenn Elpidio vor einer Fotografie seiner Mutter steht und sie anfleht, er habe immer versucht, in ihrem Sinn ein neuer Mensch zu werden, doch solle sie ihn so sein lassen, wie er ist, dann versäumt Pérez es nicht, sich mit den Ideen Che Guevaras auseinanderzusetzen. Am Rande sei erwähnt, dass Elpidio Valdés vor dreißig Jahren der Held einer sehr beliebten Zeichentrickserie war, der bei seinen Abenteuern die Errungenschaften der Revolution verteidigte.

Mit „Das Leben ein Pfeifen“ ist, einem kubanischen Kritiker der Filmzeitschrift Cine Cubano zufolge, „die Kunst ins kubanische Kino zurückgekehrt“. Und dies in mehrfacher Weise: Zum einen solle Kunst, nach den Worten von Daniel Díaz Torres, „vor allem kritische Fragen aufwerfen, die Widersprüche in einer Gesellschaft aufdecken und gesellschaftliche Entwicklungen problematisieren“. Zum anderen aber ist „Das Leben ein Pfeifen“, wie bereits „Madagascar“, Fernando Pérez' vorhergehender Film aus dem Jahre 1995, ein sehr poetischer Film. Vor allem ist er jedoch der musikalischste und, selbst wenn er ab und an die Grenzen zum Pathos zu überschreiten droht, dank der hervorragenden Kameraarbeit von Raúl Pérez Ureta auch der bildstärkste Film, den das kubanische Kino seit Jahren hervorgebracht hat. Seine bisweilen surrealistische Ästhetik ist ganz im Sinne des Regisseurs, der sich zum Ziel gesetzt hatte, „einen Film zu machen, als ob Magritte seine Bilder im heutigen Havanna gemalt hätte“.

Der symbolhaften Filmsprache ist zu verdanken, dass Pérez Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen nie eindimensional bleibt. Daneben machen die vielen Anspielungen auf kultur- und gesellschaftsspezifische kubanische Eigenheiten es den Zuschauern, europäischen wie kubanischen, nicht leicht, eine eindeutige Lesart des Films zu finden.

Obgleich die drei Protagonisten, Elpidio, Mariana und Julia, die sich in ihrer Jugend aus den Augen verloren haben, am Ende des Films wieder zueinander finden, bleibt insgesamt offen, ob die drei damit ihr Glück gefunden haben. Sie beginnen zu pfeifen. Ob es aber ein „Pfeifen vor Glück“ oder ein „Auf das Leben (in Kuba)“-Pfeifen ist, kann jeder Zuschauer selbst beurteilen. Das Wichtigste sei eben, so Fernando Pérez, die Dinge nicht zu betrachten, wie sie sind, „sondern wie wir sind“. An einem lässt sein Film allerdings keine Zweifel: Der Treffpunkt der drei auf dem Platz der Revolution unter dem Denkmal José Martis, dem unbestrittenen Nationalhelden Kubas, ist Ausdruck ihrer Heimatverbundenheit.

Volker Kull, 35, arbeitet als freier Ethnologe in Heidelberg. Er hat über das kubanische Kino promoviert