Musik als „scharfes Schwert“

■ Herbert Blomstedt und das NDR-Sinfonieorchester erinnerten an die gewaltige Musik des dänischen Komponisten Carl Nielsen

Im „Atlantisbuch der Musik“ ist 1934 zu lesen: „Im Kreis der nordischen Länder hat nach der Erscheinung Edvard Griegs wiederum Dänemark die Führung übernommen, und zwar einzig und allein durch die Persönlichkeit Carl Nielsens. Er ist, zumal in seinen Sinfonien, unter allen nordischen Komponisten der weitaus stärkste und bedeutendste geworden und hat, bei höchster nationaler Charakteristik, Weltgeltung erreicht.“ Dieser Einschätzung entspricht keineswegs Carl Nielsens Bekanntheit 2000. Seine sechs Sinfonien werden auf dem Kontinent äußerst selten aufgeführt. Und das, obschon Nielsen selbst sich in der Linie Michelangelo, Beethoven, Bach, Berlioz, Shakespeare und Goethe sah, die alle „ihrem Zeitalter ein blaues Auge verpasst hätten“, wie der 1865 geborene Komponist meinte.

Uns mit diesem großen Unbekannten aus dem nahen Norden bekannt zu machen, ist das Verdienst Herbert Blomstedts im Konzert des NDR-Sinfonieorchesters am Donnerstag in der Glocke. Und das mit einem besonders bedeutenden Riesenwerk, der 1914-1916 entstandenen Sinfonie „Die Unauslösch- liche“.

Mit diesem Werk wollte der Komponist dem Wahnsinn des ersten Weltkrieges den elementaren Willen zum Leben entgegensetzen: „Musik ist Leben und wie dieses unauslöschlich“, schrieb er 1926 in einer Programmnotiz. Und noch deutlicher: „Die ganze Welt fällt auseinander. Das Nationalgefühl, das bisher als etwas Hohes und Schönes galt, ist zu einer Art geistiger Syphilis geworden, die die Gehirne auffrisst und mit irrsinnigem Hass durch die leeren Augenhöhlen herausgrinst.“

Carl Nielsens erregte, grelle und monumentale Kompositionsweise beruft sich einerseits auf die Größen Anton Bruckner mit dessen bedrohlichen Crescendi, Richard Strauss mit seiner elementaren Instrumentationskust, Gustav Mahler mit seinen Zitaten und Montagen; auch neoklassische, fast nett musikantische Dinge sind da zu hören.

Und immer wieder Melodie in ihrer hochgespannten und expressiven Aufladung. Dramatisch spitzt sich am Ende der „Unauslöschlichen“ eine Konfrontation (und Versöhnung) zweier Pauken zu, die nach der Anweisung in der Partitur eigentlich „sich gegenüber, außen im Orchester in der Nähe der Zuhörer“ aufgestellt sein sollten, was hier leider nicht der Fall war. Insgesamt aber eine überragende Wiedergabe, „ein reines scharfes Schwert, schneidend und leicht fasslich“, wie Nielsen Musik überhaupt verstanden haben wollte.

Wie sehr Blomstedt dieses Werk am Herzen liegt, mag man daran erkennen, dass er diese brodelnde Explosivität auswendig dirigierte. Das groß besetzte Orchester folgte mit überzeugender Spannung, und die Wiedergabe taugte absolut, auf das weitere Werk Nielsens – hauptsächlich Kammer- und Klaviermusik – aufmerksam zu machen.

Leider entschied sich Herbert Blomstedt im ersten Teil für die Wiedergabe der sechsten Sinfonie „Pastorale“ von Ludwig van Beethoven. Das hätte er besser lassen sollen, denn das können andere sehr viel besser. Gewiss, es war nicht schlecht, aber die programmatische Symbolik dieses Werkes wurde eher in pauschalen Klängen mit nuscheligen Artikulationen heruntergespielt. Nervtötend die stromlinienförmige Streicherlastigkeit im zweiten Satz, die keinen Dialog und keine Entwicklung von Schichten erlaubte. Fortissimi kamen zwar irgendwie, waren aber nicht aufgebaut und entbehrten jeglicher Klangnuancen.

Ute Schalz-Laurenze