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Mein erster Franzose ■ Von Wladimir Kaminer

Der erste Franzose, den ich in Berlin kennen lernte, hieß Fabrice Godar. Wir beide und noch ein arabisches Mädchen wurden von einem ABM-Theaterprojekt angestellt: er als Kameramann, ich als Tontechniker und das Mädchen als Kostümschneiderin. Diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren speziell für die unteren Schichten des Volkes, die ansonsten kaum Chancen gehabt hätten: ältere Menschen, Behinderte und Ausländer. Ich bekam vom Arbeitsamt ein Schreiben: Zwecks Bewerbungsgespräch sollte ich zu einer Kneipe namens „Krähe“ um 22 Uhr kommen.

An einem langen Tisch saßen etwa ein Dutzend Männer und Frauen. Ein Schnurrbärtiger mit Zigarre und Whiskyglas in der Hand war der Anführer. Es war aber nicht Heiner Müller, auch nicht Thomas Brasch oder Frank Castorf. Dieser sah Che Guevara ähnlich – er hatte eine Theaterrevolution vor. Mit meinem russischen Akzent wurde ich sofort eingestellt.

Fabrice saß mittendrin. Wir wurden schnell Kumpel. Er entsprach völlig dem Klischee, das ich von Franzosen hatte: Er war leichtsinnig, oberflächlich, weltoffen und frauenfixiert. Wir sangen zusammen die „Internationale“, und Fabrice erzählte mir, er sei noch jungfräulich. Irgendwann beschloss er, mit Hilfe des ABM-Projekts seine Jungfräulichkeit ein für alle Mal los zu werden – und wurde der Liebhaber von Sabine. Sie war die Frau von einem der Schauspieler, zehn Jahre älter als er und hatte einen erwachsenen Sohn. Für sie war es ein kleines Abenteuer, für Fabrice dagegen die erste große Liebe, mit allem, was dazugehört.

Ihre Beziehung endete wenig später auf echt französische Art. Der Mann kam früher als erwartet von der Probe nach Haus. Sabine versteckte Fabrice im Kleiderschrank. Nach ein paar Stunden wollte der Ehemann sich umziehen, machte den Schrank auf und entdeckte dort den Kameramann. Ein Franzose im Schrank: Etwas derartig Blödes darf eigentlich nur in einem lustigen Film passieren. Hier war es jedoch eher traurig. Sabines Mann ging ins Theater und teilte allen mit, dass er nicht mehr imstande sei, den Fatzer – die Hauptrolle – in unserem Brecht-Stück zu spielen – nach allem, was passiert wäre. Und das zwei Wochen vor der Premiere! Wir gingen daraufhin alle zu Sabine, um die Sache gemeinsam zu besprechen. Sie war voller Verständnis – und strich Fabrice von ihrer Liebhaberliste.

Der Franzose hatte danach einen totalen Zusammenbruch, er erschien nicht mehr im Theater und wurde immer depressiver. Eines Tages hielt er es nicht mehr aus und ging zu einem Psychotherapeuten, dem er alles über Sabine und den Schrank erzählte und dass er seitdem nicht mehr schlafen könne. Der Arzt fragte ihn sofort, wie lange er denn schon arbeitslos sei. Eine ganze Weile bereits, aber das habe damit nichts zu tun, erklärte ihm Fabrice. Der Arzt war da aber ganz anderer Meinung – und verpasste dem Franzosen ein neues Antidepressiva mit Dauerwirkung – zur speziellen Behandlung aller Frührentner und Langzeitarbeitslosen, die unter Schlafstörungen und Depressionen leiden. Kommen Sie bitte in einem halben Jahr wieder, dann sehen wir weiter, beruhigte ihn der Arzt.

Die Spritze wirkte und wirkte: Fabrice wurde gleichgültig, schlief wie ein Baby, verbrachte den Rest der Zeit vorm Fernseher und guckte DSF. Er vergaß einzukaufen und sich zu waschen, auch rief er seinen Vater in Frankreich nicht mehr an, was er sonst alle zwei Wochen getan hatte. Wir machten uns große Sorgen um ihn, wussten jedoch nicht so recht, wie ihm zu helfen war. Eines Tages kam sein Vater in einem großen Citroën an und brachte ihn nach Frankreich zurück. Dort gelang es französischen Ärzten – in einer speziellen Klinik –, die Auswirkungen der deutschen Spritze endlich zu neutralisieren. Fabrice wurde wieder gesund und arbeitet jetzt – wie sein Vater – bei der Post.