„Ja, ich fühle mich verantwortlich“

■ Manche hielten sie für das Animiermädel, anderen passte sie nicht ins Format, unterwegs war sie trotzdem immer: Die Jazzsängerin Dianne Reeves über Wege, Wurzeln und harte Zeiten. Richtig tough wird es für sie aber nur, wenn sie die Musik schreiben soll, die sie hört

taz: Sie sehen sich als Jazzsängerin – obwohl Sie auf Ihrer neuen CD auch Titel von Peter Gabriel, Leonard Cohen und Joni Mitchell singen?

Dianne Reeves: Ganz eindeutig. Jazzmusik ist meine Grundlage. Und Jazzmusiker haben immer auch populäre Themen verarbeitet. Natürlich höre ich Sarah Vaughn, Ella Fitzgerald und Betty Carter. Von ihnen habe ich gelernt, dass man seine eigene Stimme und ein eigenes Konzept entwickeln muss.

Wie würden Sie Ihre eigene Stimme beschreiben?

Ich denke, dass meine Musik die Zeit reflektiert, in der ich aufgewachsen bin. Mit all den verschiedenen Einflüssen. In L. A. traf ich Mitte der Siebziger Eduardo del Barrio. Er machte mich mit der lateinamerikanischen Musik vertraut; 20 Jahre habe ich dann mit ihm gearbeitet. Joni Mitchells Platten bedeuten mir viel, vor allem ihre Aufnahmen mit dem Saxofonisten Wayne Shorter. Einer der wichtigsten Songs in meinem Leben ist „What’s Going On“ von Marvin Gaye, weil er so deutlich die dringlichsten Probleme seiner Zeit benennt, Blues hat, frei und offen ist. Dieses Zusammenwirken verschiedener Ingredienzien gibt es sonst nur im Jazz. Und der ist meine Heimat geblieben.

Sie sind sehr viel umgezogen und herumgereist – von der Ost- zur Westküste und umgekehrt.

Für mich waren die letzten 25 Jahre, seitdem ich mein behütetes Zuhause verließ, wie eine Entdeckungsreise. Als ich von Denver nach L. A. ging, hatte ich 75 Dollar in der Tasche. Und ich war zu allem bereit, als ich in L. A. ankam. Ich habe nie viel Geld verdient – außer vielleicht in der Zeit, als ich mit Harry Belafonte in New York arbeitete. Aber ich konnte mir immer ein Zimmer in New York und eins in L. A. halten. Und bin dann mit einem 99-Dollar-Round-Trip-Ticket zwischen L. A. und New York gependelt. Das ging immer mitten in der Nacht los, aber hart im Sinne von tough würde ich das nicht nennen. Klar gab es in L. A. Gigs, wo die Band zusammen 25 Dollar Gage bekam. Das reichte nicht mal, um unsere Kosten zu decken. Aber meine Leute haben mich schon in den Kindertagen gelehrt, wie man das schafft. Richtig tough wird es für mich eigentlich nur, wenn ich vor einem Blatt Papier sitze und die Musik notieren möchte, die ich im Herzen habe.

Ihre CD „Quiet After The Storm“ war Ihre Hommage an Cannonball Adderley und die afroamerikanische Kultur. Wieso gerade Cannonball?

Cannonball spielte seine Wurzeln. Unsere Wurzeln. Unsere Kultur. Schwarze Sänger und Sängerinnen kommen ja meist aus der Kirche. Und Cannonball hatte diesen Song „Hummin’“. Wenn ich die Melodie höre, sehe ich eine alte Frau in ihrem Schaukelstuhl vor mir. Die Stellung der alten Menschen mag in eurer Kultur anders sein, aber in unserer Kultur sind sie sehr wichtig. Sie repräsentieren unsere kulturelle Erfahrung, sie bewahren die Weisheit unserer Kultur. Wenn ich „Hummin’“ höre, dann spüre ich das, dann schmecke ich die Gerichte meiner Heimat. Als wir die Zawinul-Komposition „Country Preacher“ aufnahmen, war es ähnlich. Wenn ich das Stück heute höre, dann fallen mir sofort wieder die Erzählungen meiner Großmutter ein von dem Country Preacher, der damals von Dorf zu Dorf zog und praktisch das infrastrukturelle Bindeglied unserer Communities war.

Man hört, der Zustand der Communities habe sich seitdem stark verändert.

Und die Kultur auch. Seitdem alles von der Industrie kategorisiert und dann vermarktet wird, hat unsere Kultur ihre Reinheit eingebüßt. Musik war einst fester, integrierter Bestandteil des alltäglichen Lebens, heute ist sie nur noch Unterhaltung. Jeder hört heute separat und individualisiert, nach Kategorien geordnet. Es gibt hingegen kaum noch junge Afroamerikaner, die Blues hören, was ja mal ein ganz wichtiger Ausdruck unserer Kultur war. Lediglich die Gospelmusik konnte sich bis heute kulturelle Reinheit bewahren.

Ist Jazz rein oder gemischt?

Ich betrachte den Jazz als eine sehr spirituelle Musik. Und ich schreibe Songs, die die Menschen zu Hoffnung, Inspiration und Selbstverwirklichung bewegen sollen und die soziale Probleme thematisieren. Denn die Menschen müssen sich bewusst werden, dass der Informations-Overkill und Lifestyle-Terror, dem man heute überall ausgesetzt ist, sie dazu zwingen wird, das kulturelle Zentrum aus den Augen und Herzen zu verlieren. Wenn wir dem nicht widerstehen, wird uns die kulturelle Amnesie einholen, und eine ganze Kultur wird einfach so verschwinden. Davon ist natürlich nicht nur die afroamerikanische Bevölkerung betroffen. Aber als Afroamerikanerin gilt ihr mein besonderes Engagement. Keiner gibt den 15-Jährigen mehr eine Chance, sich zu entwickeln und sich selbst zu finden. Als Stevie Wonder in den Sechzigern als Little Stevie anfing, war es noch anders. Er bekam damals die Gelegenheit, sich zu einem tatsächlichen Wonder zu entwickeln. Die Wegwerfgesellschaft hingegen, in der wir heute leben, geht mit ihren Künstlern nicht anders um als mit einem angebrochenen Fast-Food-Snack, der nicht schmeckt. Weg damit in den Abfall.

Wie konnte der Jazz so defensiv, so konservativ werden? Diese Haltung eint ja mittlerweile sehr unterschiedliche Positionen der afroamerikanischen Kulturdiskussion, von Wynton Marsalis bis Amiri Baraka. Alle reden von Bewahren.

Genau, deswegen ist mein Weg ja auch so hart. Ich bilde mir nicht ein, die Welt retten zu können, aber in meinen Songs versuche ich von den Problemen und Erfahrungen zu sprechen, die ich erlebt habe. Ich meine diese eher dörfliche Community-Erfahrung, wo sich jeder für jeden verantwortlich fühlt. Ja, ich fühle mich verantwortlich.

Wie sehen Sie Ihre Situation als Frau im Jazzbusiness?

Ich habe zahlreiche Situationen erlebt, wo ich auf die Bühne kam und die Leute dachten, ich sei lediglich das Animiermädel. Jede von uns hat ihre eigene Art, mit solchen Erfahrungen umzugehen. Terry Lyne und ich sprechen sehr oft darüber. Und sie hat es als Schlagzeugerin ja noch mal viel schwerer. Was meine Musiker betrifft, habe ich immer auf den nötigen gegenseitigen Respekt geachtet. Sonst läuft das nicht. Es ist meine Band, die ich zusammengestellt habe und die ich bezahle. Wenn die Jungs das nicht klar haben, kommen wir nicht zusammen. Meine Band besteht aus Leuten, die wie eine Familie zusammenleben können. Aber die Musik ist das, worum es geht. Und nicht das Egotrip-Ding.

Gibt es wirklich so starke Formatzwänge von Seiten der Firmen?

Als schwarze Frau im Musikgeschäft habe ich eigentlich eh nur vier Wege zur Auswahl: Ich könnte Jazz-, R & B-, Gospel- oder Rap-Künstlerin werden. Als Schwarze haben wir nicht die Chance, direkt ins Popgeschäft einzusteigen. Das ist bisher den Weißen vorbehalten. Wir müssen immer erst mal das Crossover-Ding bringen. Das heißt: die Top der Black Charts erreichen, um dann in die Pop Charts zu wechseln. Ein Schwarzer, der wie Sting komponiert, kommt jedoch gar nicht erst in die Black Charts, weil er nicht schwarz genug schreibt. Das heißt, er bekommt keine Chance, dass seine Musik populär werden kann. Die schwarzen Radiosender spielen zum Beispiel kaum meine Musik, weil sie sagen, dass ich zu jazzig bin und nicht in ihr Format passe. Und umgekehrt sagen die weißen Sender, ich klinge ihnen zu schwarz. Ich bin keine Popsängerin, weil ich nicht populär bin. Wäre ich eine Popsängerin, müsste ich doch in den Pop Charts vertreten sein. Bei meiner ersten Plattenfirma gab es eine weiße und eine schwarze Sektion. Und als wir in den Black Charts ganz gut liefen, fragte ich den Manager, der für die weiße Sektion zuständig war, ob es nicht Zeit für ein Crossover in die Pop Charts wäre. Aber der Typ war ein Rassist und sagte mir unverblümt, dass er an dem ganzen Black Stuff nicht sonderlich interessiert sei. So laufen die Dinge eben.

Andererseits scheint sich zumindest im Jazzbereich doch einiges getan zu haben, wenn man allein an die atemberaubende Karriere des Wynton Marsalis und seine heutige Machtposition am New Yorker Lincoln Center denkt.

Das war aber auch ein langer, steiniger Weg. Wynton Marsalis war in der Lage, diesen Weg zu gehen und die richtigen Dinge im rechten Moment zu tun. Aber auch Kevin Eubanks wäre nicht Leiter der Tonight-Show-Band, wenn Branford Marsalis ihn nicht empfohlen hätte. Und hätte Jay Leno nicht Branford gewollt, was wäre dann? Es sind immer nur Einzelne, die solche Wege öffnen. Wenn ich sehe, dass Wynton bis heute mit dem Widerstand der meisten Kritiker zu kämpfen hat, dann sage ich mir, es ist immer noch besser da zu sein als nirgendwo. Die Frage bleibt also, wie man Gift in Medizin verwandelt.Interview: Christian Broecking

2. 2. Berlin, SFB-Sendesaal; 3. 2. Hamburg, Musikhalle; 4. 2. Düsseldorf, Tonhalle; 5. 2. Frankfurt, Alte Oper; 6. 2. Stuttgart, Liederhalle