Das Leben und nichts anderes

Enttäuschend saubere Kopie schmutziger Wirklichkeit: Lars Noréns „Personenkreis 3.1“ unter der Regie von Thomas Ostermeier in der neuen Schaubühne ■ Von Christiane Kühl

Erfahren über das Leben der Figuren tut man nichts, was man nicht schon aus Sozialreportagen wüsste

Nun also der große Saal, nun das Theater. Nachdem die Choreografin Sasha Waltz am Samstag die neue Schaubühne im kleineren Saal eröffnet hatte, zeigte Thomas Ostermeier am Montag das erste Schauspiel im Herzen des Theatertempels. An der deutschen Erstaufführung von „Personenkreis 3.1“ des schwedischen Dramatikers Lars Norén wurde dreieinhalb Monate geprobt – der Anspruch an die eigene Arbeit ist hoch, und selbstverständlich konnte man sich am Lehniner Platz auch dem extrem hohen Erwartungsdruck von Publikum und Kritik nicht entziehen.

Die Produktion kommt daher wie eine Klarstellung, allerdings wie eine verdammt simple. Hier ist jetzt Schluss mit feinsinniger Kunstfertigkeit, mit dem selbstmitleidigen Verhandeln bürgerlicher Wehwehchen, brüllt sie. Die gleichzeitige Behauptung vom Einzug des wirklichen Lebens aber ist nicht überzeugend, denn authentisch, das liegt in der Natur des Theaters, ist auf der Bühne nur das Spiel, und spielerisch ist diese Inszenierung selten.

Jan Pappelbaums Bühne ist ein großes Tableau. An drei Seiten sitzt das Publikum, hinten ist eine hohe Wand, vorne verlieren sich Stufen unter den Zuschauerraum. Nackter Beton und zwei Bänke mit jenen Drahtgittersitzen, die konstruiert wurden, um Graffitti, Bier und Kotze keine Angriffsfläche zu geben, versprühen den unschlagbaren Charme deutscher Fußgängerzonen. Choralische Gesänge erhöhen die Öde zum nachkriegszeitlichen Glaubensbekenntnis. Lichtwechsel deutet einen neuen Tag an, Passanten werden aus der U-Bahn gespuckt, Alkoholiker und Obdachlose beziehen die Bänke, Junkies setzen sich auf den Stufen den ersten Schuss. Ein Angestellter glotzt freudig auf die aufgewirbelten Papierschnipsel über dem warmen U-Bahn-Gitter. Man nimmt, was man kriegen kann. Marilyn Monroe ist definitiv nicht zu erwarten.

Wenn sie sich eine Überdosis geben sollte, sagt das Junkie-Mädchen (Anna Schudt) ihrem Junkie-Freund (André Szymanski), soll er sie abtreten lassen, denn „wer will schon wieder aufwachen, in die Scheiße rein?“

Am Ende des viereinhalbstündigen Abends verpasst sie sich den goldenen Schuss, nicht ohne uns vorher einen Happen ihrer Geschichte erzählt zu haben. Alle Figuren spucken Happen ihrer Geschichte in den Raum, und stets ist diese eine fürchterliche. Fürchterlicher als das: Es ist stets eine exemplarische. Es gibt die Junkies, den Alkoholiker, den Arbeitslosen, die Nutte, den Zuhälter, den Schriftsteller, den Schizophrenen und andere Prototypen mehr. Gemeinsam bilden sie die harte, aber herzliche Bande der Loser. Sie schlagen sich, sie trösten sich, sie reden meistens aneinander vorbei.

Das junge Ensemble kopiert dabei mit bewundernswerter Genauigkeit Penner, wie man sie draußen aus den Augenwinkeln wahrnimmt. Erfahren über ihr Leben tut man hingegen nichts, was man nicht aus Sozialreportagen wüsste. Und Fragen hat man auch keine. Außer der, warum jemand eine saubere Kopie des Schmutzigen zeigen möchte? Ostermeier will mit der verkrusteten Tradition der Schaubühne radikal brechen. Das ist eine richtige Entscheidung, und er hat bereits in diversen Inszenierungen bewiesen, dass er das Talent für einen überzeugenden Gegenentwurf hat. Mit „Personenkreis 3.1“ gelang ihm keiner. Noréns Stück demonstriert ohne dramatischen Konflikt, und Ostermeier versucht nur in Momenten poetische Verdichtung.

Bourdieu habe ihn zu einem soziologischen Theater inspiriert, erklärt Norén, der die achtstündige Uraufführung des Stücks inszeniert hat, aber formal erinnert es eher an Sozialpädagogenstücke aus den späten Siebzigern. Dass Ostermeier, der sich so offensiv zum Kino bekennt, nicht auch etwas von dessen Ironie im Umgang mit der eigenen Geschichte übernommen hat, ist schade.

Ein zweiter Anfang ist gemacht, es folgen nächste Woche mit „Ubu!“ und „Das Kontingent“ zwei weitere. Das Projekt Schaubühne ist erst am Anfang, und das ist gut.

Nächste Aufführungen: Täglich vom 9 – 11. Februar, 19.30 Uhr, Schaubühne, Kurfürstendamm 153, Charlottenburg