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Pampuchs Tagebuch20 eigene Meinungen pro Tag

Die historisch-materialistische Weisheit, dass die zerfallende Gesellschaft in ihrem Schoß die neue Gesellschaft ausbrütet, scheint sich auf überraschende Weise zu bestätigen. Zwar hat der gute alte Klassenkampf im Zuge der Digitalisierung manche Feder lassen müssen. Doch wer in diesen Tagen die Presse liest, dem wird nicht entgehen, dass – zeitgleich mit der Krise unserer Parteiendemokratie – gern von Revolution und Zeitenwende die Rede ist. Zugegeben, es geht dabei nicht um den Aufstand der Betrogenen und Angeschmierten – geschweige denn um die Befreiung der Erniedrigten und Beleidigten. Es geht um eine „ganz neue Ökonomie“, um die „Online-Revolution“, um eine Situation wie vor gut 200 Jahren, als die Industrielle Revolution begann. Und der geschwinde Spiegel hat sogar schon Anzeichen für eine neue Form der Demokratie ausgemacht: die Konsumentendemokratie.

Lustig, dass einer der Rädelsführer dieser revolutionären Bewegung sich den kecken Namen „Ciao“ gegeben hat (selbstverständlich mit dem Zusatz „Punkt com“). Das ist keineswegs der fröhliche Abschiedsgruß an die geschmierten und besudelten Parteipolitiker, die sich derzeit in Richtung Müllhaufen der Geschichte trollen. Nein, „Ciao“ steht für „consumer intelligence aggregation organization“ und ist nichts anderes als eine über E-Mail vernetzte Stiftung Warentest von Hinz für Kunz. Aber angeblich lehrt Ciao die Geschäftsleute das Fürchten. Es geht mal wider ein Gespenst um in Europa: Das Gespenst der „Communities“, die mit Verbrauchermeinungen Konsumentenpower machen. Die Losung lautet: „Work hard, Party hard!“

Tribüne und Aktionsfeld von Ciao (einer heruntergerissenen Kopie der amerikanischen Site www.epinions.com) ist der „neue, vollkommen unabhängige Marktplatz für Meinungen“. Subjekt der Bewegung kann jeder werden, der sich bei www.ciao.com einklickt und anmeldet. Damit erhält er den Ehrentitel „Meinungsmacher“ und darf hinfort in so erlesenen Kategorien wie „Autos“, „Entertainment & Medien“, „Spiele & Zubehör“, „Computer“, „Motorrad & Roller“, „Sport“, „Elektronik“ und „Reisen“ seinen Senf zu allem und jedem geben. Der Clou dabei: Für jeweils zehn Leser gibt es eine Mark! (Sollte man vielleicht mal als taz-Besoldungsgrundlage erwägen.) Und wer fleißig ist, kann es bis zum „Meinungsmacher des Tages“ bringen und wird mit Foto abgebildet. Einige dieser Heroen des kritischen Konsums scheinen sich zu regelrechten Profis entwickelt zu haben, die täglich bis zu 20 Meinungen – das Stück zu 90 Wörtern – absondern. Meistens sind die ziemlich banal, aber es gibt immerhin ein übersichtliches 5-Punkt-Bewertungssystem.

30.000 Meinungen – zum Surfbrett und zum Handy, zur „Titanic“ und zu Reich-Ranicki – haben die „Meinungsführer“ von ciao.com bereits im ersten Monat auf den Markt geschleudert, seit sie Mitte November – durch Großanzeigen gepuscht – antraten. Die Zahl der Abrufe soll inzwischen in die Millionen gehen.

„Es genügt nicht, keine Meinung zu haben, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken“, so hat Wolfgang Neuss vor Jahrzehnten mal den Zustand der alten Republik beschrieben. Die Sorgen scheinen wir nicht mehr zu haben. Meinung lohnt sich wieder! Was sie bewirkt, weiß allerdings keiner so recht zu sagen – auch Ciao nicht. In den USA stellen die pfiffigeren Unternehmen jedenfalls die „epinions“ bereits in ihre eigenen Webseiten und werben damit. Manchmal brütet die neue Gesellschaft in ihrem Schoß doch wieder die alte aus.

Thomas Pampuch

thopampuch@aol.com

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