Brot für die Welt

Es steht schlecht ums täglich Brot. Multis wie Kamps & Co. servieren künstlich aufgeblähte Industrielaibe, und Tankstellen mutieren zu Bäckereien. Einige Traditionalisten stemmen sich gegen den bedrohlichen Trend. Berühmtes Beispiel: der Pariser Bäckermeister Lionel Poilâne. Er backt sein begehrtes Brot so wie vor 150 Jahren Von Eberhard Schäfer

Gutes Essen ist einfach“, meint Lionel Poilâne. „Das beste Frühstück ist Brot, Butter und Kaffee.“ Der Bäckermeister buttert eine Scheibe, die ein Geselle im holzgefeuerten Backofen getoastet hat. Die Butter schmilzt, Poilâne reicht mir die goldbraune Scheibe. Pariser Frühstück, mal ohne Croissant und Baguette.

Der Biss ist nichts für Kukident-Abhängige. Die Kruste ist mächtig und fast schwarz, riecht nach Malz und Rauch. Der reiche Geschmack changiert zwischen leicht salzig und mild-süß. Die Scheibe ist durchzogen von Löchern in Erbsen- bis Grottenformat, riecht nach frisch gemähtem Getreidefeld. Und plötzlich schmeckt’s nach Karamel. Ist die Kruste klein gebissen, folgt ein mollig-weiches Kaugefühl. Ein mildsäuerliches Aroma streichelt die Zunge, Behagen stellt sich ein. D’accord, Monsieur: Einfach gut. Aber ist es auch einfach, so ein gutes Brot zu backen?

Poilâne führt mich eine schmale Treppe zur Backstube hinunter: ein heißes, tonnenförmiges Gewölbe aus Mauerwerk, nicht breiter als fünf Meter. Am Ende steht der geräumige Backofen, so breit wie der Raum und unendlich lang. Durch einen schmalen Schlitz sieht man weit hinten Feuer lodern. Poilânes Konzept ist denkbar simpel: Brot backen wie vor 150 Jahren. Ohne Knöpfe, ohne Schalter, ohne Thermometer. Mit warmen Händen, viel Gefühl und archaischem Werkzeug. Links steht ein Arbeitstisch für den Bäcker, rechts das einzige Zugeständnis an die Moderne: eine elektrische Knetmaschine.

Ein sportlicher Bäckergeselle im Tennisdress kontrolliert die historische Szenerie. Frieren muss er nicht: In der Werkstatt wird es kaum kälter als dreißig Grad. Der Sportsmann verknetet steingemahlenes Weizenmehl, Wasser plus exakt zwei Prozent Salz mit dem chef, wie der Sauerteig hier genannt wird: Ohne Chef läuft nichts. Der Bäcker formt große runde Laibe und legt sie in Weidenkörbe, die mit Leinentüchern ausgelegt sind. Hier fermentieren sie zwei Stunden, dann geht es ab in den Ofen. Der wird mit Holz beheizt, allerdings nicht direkt wie beim Holzofenbrot. Die Scheite liegen unter der Backfläche in einer eigenen Brennkammer. Das Feuer züngelt aber leicht in die obere Backkammer hinein. Das gibt dem Brot die dezente Rauchnote.

Nach einer Stunde in der Ofenhitze zieht der Geselle die stattlichen Boules heraus. Knapp zwei Kilo wiegen die runden Laiber. „Das ist echtes französisches Brot“, sagt der zierlich-kleine 54jährige Meister. Das Baguette gibt es erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Vorher haben die Pariser rundes Sauerteigbrot gegessen, die Boules, denen der Bäcker, Boulanger, seinen Namen verdankt. Poilâne weiß das, denn er ist zugleich Brothistoriker, Forscher, Ethnologe. Seine Brotbibliothek umfasst zweitausend Bände. Und er ist Geschäftsmann: Poilâne, der wie eine bemehlte Ausgabe des französischen Philosophen André Glucksmann aussieht, präsentiert sich kalkuliert bescheiden, mit altmodischem Hemd, Fliege, Stehkragen und fließendem Englisch.

Mit Bäckern hat der Maître nichts an der Mütze: Ausgebildete Fachkräfte stellt er grundsätzlich nicht ein. „Die sind von der Technik verdorben. Sie lernen, welche Knöpfe sie drücken müssen, wissen aber nicht, was sie tun.“ Bei Poilâne sind selbst Thermometer überflüssig: Er schiebt für zehn Sekunden ein Stück Papier in den Ofen und bestimmt die Temperatur aus der Farbe, die es annimmt. Poilâne räsoniert: „Je automatisierter die Bäckerei, desto schlechter der Bäcker.“

Poilâne stemmt sich gegen den Trend. Baguettes und Croissants, egal ob in Paris oder Berlin gekauft, stammen vom Fließband. In den „Back-Shops“ wird nur noch aufgebacken. Mit Erfolg: Die Esso-Tankstellen gehören zu den größten Bäckereien im Land – Benzingschmäckle inklusive. Das Verblüffende: Häufig schmecken die aufgewärmten Tiefkühlteiglinge sogar besser als die Ware vom vermeintlich traditionellen Bäcker an der Ecke. Der bekommt meist fix und fertige Backmischungen geliefert. Ob „Landbrot“, „Dinkel-Vollkornfix“ mit Öko-Touch oder sportlich-ballaststoffreiches „Joggingbrot“: Die Konzerne liefern, der ehrenwerte Handwerker muss nur noch den Sack aufschneiden und den Ofen anwerfen. Der Bäcker wird zum Heizer. Damit die Industrie-Backmischungen schön lange haltbar sind, die Maschinen sie bequem durchrühren können und die frischen Wecken richtig aussehen, schütten die Hersteller allerhand Helferlein hinein. Nicht dass der gemeine Brotesser davon stürbe, wenn etwa simpler Kalk in den Teig geknetet wird. Manche Zutaten sind aber doch „ein bisschen eklig“, schreibt Fachautor Hans-Ulrich Grimm („Der Bio-Bluff“, Hirzel-Verlag). Zum Beispiel das Cystein, ein Stoff, der kleine Brötchen größer macht: Es kommt „ganz natürlich“ im menschlichen Körper vor, „in Haaren, Finger- und Fußnägeln und im Blut“. Früher wurde die Substanz, die die Brötchen aufbläst, aus asiatischem Menschenhaar gewonnen, mittlerweile wird sie synthetisch erzeugt. Gefährlicher wird es, meint Grimm, bei Wundermittelchen wie dem Enzym „Alpha-Amylase“. Die macht die Kruste elastischer, peppt Aroma und Volumen auf. Bei empfindlichen Brotessern kann die Alpha-Amylase Allergien auslösen – und beim Bäcker, der damit hantiert.

Enzymfrei backen die Vollkornbäcker wie Hans Leib vom Berliner „Backhaus“. 1978 gründete er das erste deutsche Bäckereikollektiv, den Charlottenburger „Brotgarten“. Vor zwei Jahren ist Leib von der reinen Lehre abgefallen. Seit er beobachtete, dass immer mehr Kunden bei ihm ökologisch korrektes Ganzkornbrot kauften und beim Normalo-Bäcker Ciabatta und Baguette, kann man im Backhaus unerhörte Dinge kaufen: Oliven-Ciabattas oder Landbrot französischer Art, das zwanzig Stunden in kühler Luft gehen darf. Selbstredend hat Leib nur Bioqualität. Trotzdem war mancher Fundi tief empört: „Bio-Bandit!“ musste sich der Bäcker schimpfen lassen.

Bio-Brot ist auch bei der gehobenen Kundschaft en vogue. In Fresstempeln wie den Berliner „Galeries Lafayette“ wird es stark nachgefragt. Im Regal liegen hier auch die Boules von Poilâne. Zweimal die Woche werden sie aus Paris eingeflogen und für 18 Mark das Stück verkauft. Teuer ist das nicht. Wer sich etwa mit modischer Ciabatta ernährt, zahlt für 250 Gramm drei Mark, für zwei Kilo wären mithin 24 Mark fällig. Längst kann Poilâne die weltweite Nachfrage nicht mehr allein aus seiner musealen Backstube in der Innenstadt befriedigen: Allein fünftausend US-Amerikaner bekommen einmal wöchentlich – Kosten hin, Umwelt her – ein duftendes Paket aus Paris. Robert De Niro und Steven Spielberg stehen mit auf der Kundenliste. Schon in den Achtzigerjahren hat der Traditionsunternehmer eine Manufaktur am Stadtrand errichtet. Hier backen 140 Bäcker in 24 Backstuben, allesamt exakte Nachbauten des Originals, täglich 20.000 Brote Marke Poilâne für die Welt.

Lionel Poilânes Stammhaus steht in der Rue du Cherche-Midi Nr. 8 im 6. Pariser Arrondissement

Eberhard Schäfer, 37, ist Gastronomieautor der taz