Der Bürgermeister und sein Äolischer Traum

Die Liparischen Inseln, Italiens schönste Inselgruppe, suchen nach dem eingeborenenverträglichen Tourismus. Doch die Schönen und Reichen aus dem Norden beharren auf ihrer Idylle. Der Bürgermeister von Lipari versucht den Spagat ■ Von Rebecca und Werner Raith

Einerseits wollen die VIPs unter sich bleiben, andererseitswollen sie ihre Umgebung spüren lassen, dass sie da sind

Wenn die ersten Herbststürme über das Mittelmeer fegen, die Schifffahrt schon mal für einige Tage eingestellt werden muss, die letzten Urlauber doch noch einen wärmeren Pullover erstehen – dann beginnen auch Leute wie Nunzio vom „Ritrovo Remigio“ auf Vulcano ihre Koffer zu packen: Der 45-jährige Barmann hat sein eigentliches Zuhause in Messina, kommt seit Jahren aber den ganzen Sommer über zum Espresso- und Campari-Ausschenken auf die Insel. Da gilt er dann bei Kurgästen wie Teenies als unumstrittener „König der Eisbereiter“, so wundervoll kann er die Waffeltüten mit den Bällchen füllen und schwungvoll über die Theke reichen. Auch Vincenzo und Vladimiro, 19 und 21, räumen ihre Plätze im Kellnereck des Restaurants „Trattoria D’Oro“ in Lipari: Sie wohnen zwar auf der größten Äolischen Insel, aber Winter und Frühjahr bedeutet für sie Studieren und nicht Essen herumtragen.

Wenn die Touristen fort sind, viele Geschäfte und Restaurants geschlossen, die Strandetablissements winterfest gemacht, dann kommt die Zeit des Dr. Michele Giacomantonio und seiner Crew. Der 59-jährige Journalist steht seit gut sechs Jahren der Stadt Lipari als Bürgermeister vor, und was er sich vorgenommen hat, betitelt sich in einer programmatischen Schrift „Der Äolische Traum“, benannt nach dem Windgott Aeolus, der einst Namensgeber der Inseln war. Er will nicht weniger als die Versöhnung des „ganz normalen“ Insellebens mit dem Massentourismus – mehr aber noch mit dem VIP-Verkehr. Auf Abstand und gleichzeitig Jetset-Behandlung bedacht, macht er seit gut einem Jahrzehnt die Liparischen Inseln unsicher.

Der Bürgermeister mit seiner Mitte-Links-Koalition will die größte der Inseln zum Standort für eine Meeresakademie machen. Ideal, fürwahr, denn durch den noch immer stattfindenden Bimssteinabbau (für erdbebensichere Bausteine) ist schneeweißer Sand ins Wasser gerutscht. Dadurch kann man ohne Beleuchtung bis zu 15 Meter in die Tiefe sehen; stillgelegte Strukturen des (allmählich eingestellten, weil für die Lungen gefährlichen) Abbaus sollen baldigst die Räumlichkeiten für die Hochschule bieten. Die Universität Messina und die EU beteiligen sich an der neuen Einrichtung. Damit, so Giacomatonio, „können wir Menschen auch außerhalb der Saison anlocken und so die Ballung in den zehn Sommermonaten entzerren“. Den alljährlichen, für lange Zeit völlig chaotischen Ansturm der Fremden hat er bereits einigermaßen gezähmt; Autos darf man nur noch auf die größten Inseln Lipari und Salina mitnehmen, und auch da nur, wenn man mindestens zwei Wochen bleibt.

„Die Inseln“, so das Credo im „Äolischen Traum“, „gehören ihren angestammten, dauerhaften Bewohnern, der Tourismus, so wichtig er wirtschaftlich ist, darf sich hier nur einfügen, nicht dominieren.“

Die Hauptinsel Lipari hat die administrative Leitung über fünf weitere Inseln: Vulcano, Stromboli, Panarea, Filicudi und Alicudi. Nur Salina hat eine eigene Gemeindeverwaltung bewahrt. Die Inseln liegen sternförmig vor dem Nordwesten Siziliens und zählen alle zusammen gerade mal 15.000 Einwohner; manche davon, wie Alicudi, hat nicht einmal 50 Festansiedler. Doch gerade die geringe Besiedelung der überwiegend noch ganz als Vulkankegel aufragenden Inseln mit Größen zwischen dreieinhalb Quadratkilometer (Panarea) und 37,4 Quadratkilometer ist es, die den Tourismus ganz unterschiedlicher Art anzieht: Seit zuerst in den 50er-Jahren durch den Film „Stromboli“ mit Ingrid Bergmann und Ende der 80er, Anfang der 90er durch Nanni Morettis „Liebes Tagebuch“ und Michael Redfords „Der Postmann“ mit Philippe Noiret und Massimo Troisi der Blick auf die einsamen Vulkaninseln gelenkt wurde, kommen hier gleichzeitig Rucksacktouristen und Edelaussteiger, Wildnisliebhaber und Rummelflüchtlinge aus den obersten VIP-Etagen her, ganz zu schweigen von den vor allem auf Vulcano ganzjährig kurenden Gelenkkranken. Industriekapitäne wie Fiat-Patriarch Gianni Agnelli, Filmschaffende wie Sergio Castelliti, aber auch aus dem Ausland herbeigejettete EU-Abgeordnete, hohe Beamte und Hightech-Neureiche haben sich abseits der touristischen Trampelpfade ihre Datschen geschaffen: versteckt hinter allerlei Hecken und Gebüsch, nach außen schlicht, innen aber höchst luxuriös. Sie wachen eifersüchtig darüber, dass die gemeinen Erdenbürger nicht näher als ein paar hundert Meter an ihr Refugium gelangen können. Einerseits wollen sie unter sich bleiben, andererseits ihre Umgebung spüren lassen, dass sie da sind und man sich gefälligst nach ihnen richten soll.

Und das ist das eine große Problem von Bürgermeister Giocomantonio. Zwar hat es auch einige Mühe gekostet, etwa die Stadtzentren in Lipari-Stadt und auf Vulcano zur gänzlich autofreien Zonen zu erklären, „aber die Geschäftsleute haben mittlerweile die Vorteile daraus erkannt“. Ebenso sind die neuen Direktiven, die die vordem üblichen Bauten von neuen Großhotels verhindern, allgemein akzeptiert, die Verlagerung auf den Bed-and-Breakfast-Tourismus bei kleinen Vermietern fast ebenso verbreitet wie die Hotelunterkunft. Aber mit den VIPs und deren Gefolge und auch mit manchen Ausländern mit Heilsgehabe tut sich die Inselverwaltung doch sehr schwer. Sie sind zutiefst davon überzeugt, dass die Entscheidung über Inselästhetik vor allem ihnen zusteht. Zu Hilfe kommen ihnen dabei oft ganze Heerscharen von Umweltschützern, die sich allerdings kaum einmal mit den alltäglichen Problemen der Einwohner beschäftigt haben, aber auch viele ausländische Touristen, die „ihre“ Liparen so haben möchten wie immer: wild, aber nicht zu gefährlich, zurückgeblieben im Zeitalter tuckernder Fischkutter, aber selbstverständlich mit sofort aktivierbaren Internetanschlüssen und Reparaturwerkstätten für die hoch moderne Yacht und das Surfbrett.

Musterbeispiel ist der Kampf um Ginostra. Das 40-Seelen-Örtchen liegt auf der Südseite des Stromboli und ist seit langem nur noch per Schiff zu erreichen, weil Verwerfungen alle innerinsularen Pfade zerstört haben. Aber der Hafen ist so winzig, dass gerade mal vier Fischerkähne hineinpassen; Ginostra hat sich sogar als „Ort mit dem kleinsten Hafen der Welt“ ins Guinness-Buch der Rekorde eintragen lassen. Wer mit dem Dampfer kommt, muss auf einer Außenleiter herunterklettern, dann in ein Zubringerboot springen und wird schließlich an Land gebracht. Das ist den Sommer über eine herrliche Angelegenheit und macht allen großen Spaß.

Nur: kaum weht ein leichter Wind, wird die Sache zum Abenteuer, und wird die Brise steifer, passiert es schon mal, dass das Zubringerboot nicht angetäut werden kann. „Und so kommt es gar nicht selten vor“, erzählt Bürgermeister Giacomantonio, „dass der Vater mit dem kleineren Kind noch in die Barke hüpfen konnte, die Mutter mit dem älteren Kind aber auf dem Schiff zurückbleiben und nach Stromboli-Ort auf die Nordseite der Insel zurückkehren musste – oft für Tage.“ Und darum will der Bürgermeister den Hafen zumindest ein wenig ausbauen.

Doch da sind nun die VIPs, von denen sich einige Dutzend hoch vermögende für jeweils ein paar Sommerwochen dort ihre Herbergen gebaut haben. Und die haben ganze Abwehrbattaillone zu aktivieren verstanden.

Umweltschützer, vorwiegend aus dem hohen Norden, bombardierten das Projekt massiv in aller Öffentlichkeit. Und natürlich gelang es kinderleicht, speziell deutsche Stammtouristen und einige bekannte Reiseführer in den Sog der angeblichen Inselbewahrer zu ziehen.

„Die Idylle Ginostras“ sei „auf längere Sicht gefährdet“, barmt der Reiseführer aus dem Michael-Müller-Verlag, und DuMont rüffelt die Ausbaupläne streng als „absurd“: „Italien kann es sich wahrlich leisten, wenigstens diesem unberührten Winkel seine Unschuld zu lassen.“

Von wegen Unschuld: „Die Leute machen sich offenbar nicht klar, das der ganze Ort sozusagen auf einem Pulverfass sitzt“, meint Bürgermeister Giacomantonio: Weil es keine eigene Stromzuleitung gibt, haben fast alle Häuser eigene Stromaggregate aufgestellt – und die werden mit Gasflaschen betrieben. „Sollte der Stromboli einmal Schlacke und feurige Asche auf diese Seite spucken, fliegen diese Gasflaschen alle in die Luft – ein grauenhaftes Desaster, das weit über die bloße Gefahr des Lavastroms hinausgeht.“ Der derzeitige Minihafen böte nicht einmal den ständig auf der Insel wohnenden drei Dutzend Menschen Fluchtmöglichkeiten, geschweige denn den zusätzlichen Sommergästen.

Bürgermeister Giacomantonio möchte daher die Stromversorgung der Insel total vom Gas abkoppeln: mit einer Solaranlage, die nach mehreren Berechnungen das ganze Jahr nahezu ohne Zusatzversorgung Strom zur Genüge liefern könnte. Doch die wäre ungefähr 100 mal 100 Meter groß – und schon haben wir wieder die Umweltästheten in der Bütt. „Eine grauenhafte Verschandelung“, schimpften eigens angereiste Urbanistiker – denen aber auch nichts Rechtes als Alternative einfiel. Um das zu verdecken, forderten sie vehement die Erklärung des gesamten südlichen Stromboli-Umfeldes zum „Meerespark“.

Bürgermeister Giacomantonio verdreht die Augen: „Natürlich würden wir einen Teil der ufernahen Zonen gerne zur Schutzzone erklären, aber wir müssen auch daran denken, dass die Einwohner – die wirklichen, dauerhaften – hier vom Fischfang leben.“ Den aber müssten sie aufgeben, wenn alles ringsum Naturpark wäre.

So wird der „Äolische Traum“ wohl noch einige Zeit Traum bleiben. Aber ein wenig, „ein ganz klein wenig“, sagt Bürgermeister Giacomantonio, „kommen wir ihm von Jahr zu Jahr näher.“