Die Träume überlebt

Der greise Stefan Heym las in der Akademie der Künste aus einem unveröffentlichten Manuskript aus den Sechzigerjahren

Als Heym den Satz „Also auf, zum Sturm gegen die Windmühlen“ gelesen hatte, jubelte die Akademie

Vor etwa neun Monaten war er zuletzt in den Schlagzeilen. Da meldeten die Agenturen, dass der Schriftsteller und ehemalige Alterspräsident des Deutschen Bundestages nach einer Gallensteinoperation ins künstliche Koma versetzt worden sei. Sechs Wochen war Heym ohne Bewusstsein, und in den Feuilletons nahmen die Nachrufschreiber ihre makabre Arbeit auf.

Aber Heym kam noch einmal zurück. Und am Freitagabend feierte der 86-jährige Schriftsteller in der Akademie der Künste einen regelrechten Triumph. Der große Saal der Akademie war überfüllt. Und als Stefan Heym nach zweistündiger Lesung mit leiser, aber fester Stimme den Schlusssatz „Also auf, zum Sturm gegen die Windmühlen!“ gelesen hatte, da jubelte die Akademie, und Heym hob beide Hände zum Gruß, warf Kusshände ins Publikum und sagte immer wieder „Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen.“

Es war natürlich nicht der Roman, der da bejubelt wurde. Heym las aus dem Manuskript eines von ihm in den Sechzigerjahren auf Englisch verfassten Textes, den er gerade selber übersetzt und der im Herbst unter dem Titel „Die Architekten“ erscheinen soll. Peter Hutchinson, Germanist aus Cambridge und Heyms Biograf, nannte den Roman das neben „Radek“ wichtigste antistalinistische Buch des Autors. Dass es damals in der DDR nicht erscheinen durfte, scheint für diese These zu sprechen. Dass sein englischer Verleger das Manuskript damals aus Qualitätsgründen ablehnte, eher dagegen.

Es ist ein Buch, das die Entwicklungen in der DDR in der Folge von Chruschtschows Geheimrede vom XX. Parteitag der KPdSU beschreibt. Die sanfte, zunächst unentschlossene Entstalinisierung Anfang der Sechzigerjahre. Und die Unsicherheit der Bevölkerung. „Früher war alles besser gewesen“, heißt es, „da hatte man immerhin noch gewusst, in welche Richtung man heucheln sollte.“

Protagonisten sind Architekten, die im Dienste des Staates eine repräsentative „Straße des Weltfriedens“ planen sollen. Eine Straße, die unschwer als Stalinallee zu entschlüsseln ist.

Heym liest sehr schöne Dialoge zwischen den Architekten, die mehr oder weniger opportunistisch, mehr oder weniger revolutionär, mehr oder weniger desillusioniert sind von der sozialistischen Wirklichkeit. Und Gespräche mit dem Bezirkssekretär, die die dunkle, bedrohliche und gleichzeitig lächerliche Seite des Systems beschreiben. Er liest von Verrat, vom Glauben, von politischen Träumen und der sowjetischen Hölle und dass „jede Generation und jede Gesellschaftsform ihre eigene Form von Schurken erzeugt“.

Aber das eigentliche Ereignis ist nicht das Buch. Das Ereignis ist Heym und wie er seinem Biografen, der ihn stützend auf die Bühne geleiten möchte, einfach davonläuft, wie er lächelt, als Hutchinson über seinen Kopf hinweg über den Zeitpunkt des Entstehens von „Die Architekten“ rätselt („Im August 63 hat er sich Bauhaus-Bände aus der Bibliothek entliehen.“ „Wie lange er an dem Buch gearbeitet hat, wissen wir nicht. Er weiß es auch nicht.“). Als würde hier schon der Nachlass gefleddert. Doch der Nachlassgeber, der sitzt da noch, klein, mit weißem Haarkranz, auf seinem Stuhl im Licht und liest mit leiser Stimme fragend: „Hatten ihn seine Träume überlebt oder hatte er überlebt, weil er sich seine Träume erhalten hatte?“ Kleine Rätselfrage zum Schluss und alle Leute jubeln. Volker Weidermann