Die CDU-Spendenaffäre und die Folgen (7): Helmut Kohl ist so treudeutsch, dass er einen Platz in der Kulturgeschichte verdient
: Schleppfuß, Hinterpförtner, Streithofen

Helmut Kohl rührt mit seinem vormodernen Ehrbegriff das Naive im Menschen an

Zu Beginn der Nazizeit nannte sich ein jüdisches Studentenkabarett „Kraft durch Schaden-Freude“. Diese besondere Kraft fließt uns aus dem Stück zu, das gegenwärtig aufgeführt wird. Geben wir ihm – mit dem Namen einer geheimnisvollen Stiftung in Lichtenstein – den Titel „Zaunkönig“. Es ist ein schönes Stück, das da gespielt wird, ein befreiendes und – das soll hier Thema sein – mal wieder so recht ein deutsches Stück! Die typischen Elemente unserer Volkskultur, zu denen schon der niedliche Titel gehört, dürfen in Erscheinung treten.

Das Setting selbst ist natürlich nicht partikular deutsch, sondern universal. Das Geld regiert die Politik – das gab und gibt es überall und immer. Wenn Adolf Hitler sagte: „Hinter mir stehen Millionen“ und John Heartfields Collage ihn vor den Hintergrund der Fabrikschlote der Waffenproduzenten stellte, aus dem ein Packen Geld in seine gekrümmte Linke wanderte, so war hier sicherlich nichts spezifisch Deutsches zu sehen. Sondern die ubiquitäre Präsenz des militärisch-industriellen Komplexes. Die altdeutschen Züge, die dem Stück den ästhetischen Reiz geben, liegen in den Einzelheiten.

Die Charakteristika der deutschen Kultur kommen immer da heraus, wo sich die „verspätete Nation“ zeigt. Bekanntlich ist bei uns die Moderne, ist insbesondere der moderne Staat verspätet eingezogen. Die Aufklärung, die an die antike Polis-Idee anknüpfte, fasste in Deutschland nicht Fuß, sondern wurde von der romantischen Gegenbewegung verdrängt, die ins Mittelalter zurückwies. Die persönlichen Bindekräfte des Mittelalters, die feudalen Treueverhältnisse behinderten hierzulande allzu lange die modernen demokratischen Institutionen.

Kohls Ehrbegriff, der keine Loyalität gegenüber dem Recht kennt, sondern nur die Treue zu bestimmten Personen, ist mittelalterlich. Er war am Platze, als der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht auf gemeinsamer Staatsbürgerschaft, sondern auf Kettenbildungen beruhte, die durch persönliche Treueeide begründet wurden. Die Ehre in der Demokratie hingegen ist die „Rule of Law“. Sie hat abstrakten, unpersönlichen Charakter und beruht auf der Unterwerfung unter die Gesetze. Wann immer sich die deutsche Politik so recht deutsch verhalten hat, nahm sie das persönliche Treueverhältnis schwer und die abstrakte Rechtsordnung leicht. Die alte „Nibelungentreue“ gegenüber Österreich löste den moralischen Zwang aus, in den Ersten Weltkrieg zu gehen. Der Völkerbund hingegen verkörperte eine traditionslos-unpersönliche Weltordnung, die ohne moralische Probleme durch das Anzetteln eines Zweiten Weltkrieges gebrochen werden konnte. Helmut Kohl stellt sich auf den altdeutschen, treudeutschen Standpunkt, und wenn er bei seinem Bühnenauftritt so treuherzig guckt, wird man von den Gefühlen ergriffen, die ihn in Bremen und Hamburg getragen haben. Der vormoderne, aus dem Mittelalter herübergerettete Ehrbegriff rührt das Naive im Menschen an.

Diese reizend-altfränkische Ehrbarkeit allein aber macht die Deutschtümlichkeit des Zaunkönig-Stücks noch nicht aus. Sie gibt noch nicht den dämonischen Charakter, den alles so recht Deutsche haben will. Denken wir daran, dass das deutsche Haupt- und Staatsstück, Faust, einen Pakt mit dem Teufel zum Inhalt hatte. Denken wir daran, dass die erste romantische Oper, die den deutschen Nationalcharakter zeigen wollte, „Der Freischütz“, ebenfalls einen Teufelspakt inszenierte. Denken wir daran, dass Thomas Mann vom Exil her die Höhen und Tiefen seines Vaterlandes in dem Roman „Doktor Faustus“ darstellte.

Thomas Mann hätte seine helle Freude an einer Figur, die jetzt im Hintergrund des „Zaunkönigs“ agiert und entzückenderweise Pater Basilius Streithofen heißt. Er liebte diese Figuren, die aus dem finsteren Mittelalter heraus eine doppelbödige Moral in die Gegenwart gerettet haben und in raffinierter Dialektik Gut und Böse vertauschen. Im „Doktor Faustus“ hat er sie – in der Meinung, ihr Wirken kennzeichne sein Vaterland – in verschiedener Gestalt auftreten lassen. Ich erinnere an Eberhard Schleppfuß und Monsignore Hinterpförtner. Populär geworden aber ist der große Antagonist Settembrinis im „Zauberberg“, Leo Naphta, der das Oberste so geschickt nach unten kehren kann und das Untere nach oben wie Basilius Streithofen.

Dieser Beichtvater Helmut Kohls ist die Figur, die im „Zaunkönig“ das Teufelsmotiv anschlägt. Natürlich habe der persönliche Pakt in der Moraltheologie Vorrang vor dem abstrakten Gesetz, sagte er in den Tagesthemen. Die Wahrheitssuche hingegen, so unterwies er das erstaunte Fernsehpublikum – sei Teufelswerk. Dabei berief er sich nicht auf den Kodex des Bösen, sondern, ganz im Gegenteil, auf Dietrich Bonhoeffer, der sich tatsächlich in seinen ethischen Fragmenten einmal in diesem Sinne geäußert hat. Ähnlich wie Ibsen in der „Wildente“, wo das erbarmungslose Aufdecken der familiären Lebenslüge ins Unglück führt, mahnt Bonhoeffer, die Wahrheit nur da zu sagen, wo sie ihren Ort hat. Er bringt ein Beispiel: Ein Schüler wird vor der Klasse gefragt, ob es stimme, dass sein Vater öfters betrunken nach Hause kommt. Das Nein des Kindes sei nicht Lüge, sagt Bonhoeffer. Die Wahrheitssuche hingegen sei fehl am Platze gewesen. Man darf nicht annehmen, dass Bonhoeffer mit dieser Bemerkung 1944 auch die schonungslose Enttarnung der hinter der Politik steckenden Kräfte (die ihn wenig später töten sollten) zum Teufelswerk machen wollte. Es gehört schon ein gestandener Naphta dazu, das Gute so geschickt auf die Seite des Satans zu manövrieren.

Thomas Mann hätte seine helle Freude an einer Figur wie Basilius Streithofen gehabt

Schon der Titel des Zaunkönig-Stücks spielt schwarz-humorvoll auf die raffinierte Gut/Böse-Verdrehung an, die sein Inhalt ist. Das Überleben dieses niedlichen Vogels nämlich hat sich die Gegenseite zur Aufgabe gemacht, die Gegenseite des Dunkels, das seinen Namen missbraucht. Der Zaunkönig ist Symbol des Lebensschutzes. Man darf annehmen – und diese Frage macht das Stück nach wie vor spannend! – dass Lebensschutz nicht das Prinzip ist, das die hinter Kohl stehenden Millionen beherrscht. Wenn man Karlheinz Schreiber glauben kann (der unter den modernen Ganoven, die im „Doktor Faustus“ auch auftreten, einen Ehrenplatz erhalten hätte), so befindet sich hinter der CDU ein Abgrund – so tief, dass, fällt jemand hinunter, kein Aufprall zu hören ist.

Das kann nur der Orkus sein. Im letzten Akt des Stückes werden wir hoffentlich erfahren, wer den Orkus regiert – welchen bürgerlichen Namen der Teufel hat. Wenn Hitler sagte: „Hinter mir stehen Millionen“, so war dieser Name Flick. Heißt der Teufel immer noch Flick? Oder wie heißt er heute? Wir sitzen gespannt in den Rängen. Sibylle Tönnies