Empfangshalle der Fantasie

Zwölf Schuss und noch mehr Traum: Andreas Kriegenburg inszeniert „The Black Rider“

Kommen drei bunte Kittelschürzen auf die Bühne, greifen sich Megafone und plappern drauflos. Russisch wahrscheinlich. Man hätte aber sowieso nix verstanden. Die Musik war zu laut.

Ein Theaterabend beginnt mit etwas, was eigentlich nicht zu ihm gehört und was auch am Ende nicht passt. Nicht zur Geschichte noch sonst irgendwas. Vielleicht ist es die praktische Tatkraft, vielleicht das Mundwerk, das den Alltag meint und manchmal vorwärts treibt. Vielleicht winkt dieses Bild auch schlicht der Realität, die in Andreas Kriegenburgs Münchner „Black Rider“ besonders wenig Raum erhält. Der Regisseur Robert Wilson, der Dichter William S. Burroughs und der Musiker Tom Waits haben das „Grusical“ vor zehn Jahren aus dem Stoff des „Freischütz“ genäht, der der Sage nach mit Teufelskugeln das Wild, aber auch seine eigene Seele zum Fallen bringt. Bei Wilhelm ist es (nur) eine Schreibstubenseele. Und wenn er nicht schießen lernt, kriegt er sein Kätchen nie. Mit jeder der zwölf Silberkugeln vom Stelzfuß aber rückt das Herz der Försterstochter näher. Am Ende hat er es direkt vor der Flinte – und schießt. Bei der Uraufführung im Hamburger Thalia Theater zauberte das amerikanische Trio das Personal der Geschichte aus einem schwarzen Kasten. Nach diesem Wink in Richtung arme, reiche Zauberstube Bühne konnte der Kasten wachsen und die Welt bedeuten.

Für Kriegenburg hat Robert Ebeling eine filigranere Lösung gefunden: Im Residenztheater steht ein Raum aus Klarsichtfolie, von einem Riesenpinsel großzügig weiß bemalt: Ein eisgraues Gewächshaus, das sich dem Licht verschließt. Was da drin lebt, das schöpft ganz aus sich selbst. Dies ist des braven Wilhelms Reich. Da ist seine Schreibstube, dort streift seine tote Mutter im Nachthemd umher. Dort fesselt er seinen Vater an den Rollstuhl und das himmelhoch kieksende Kätchen mit seinem Schlips. Aus Liebe und damit endlich mal einer Ohren hat für seine Träume. In denen wird der Raum zum düster-deutschen Wald. Und wenn das Dach ein wenig flattert, dann scheint der Raum zu atmen, und das ganze Theater beginnt zu tanzen im Licht.

Natürlich ist auch Wilson ein Inszenator von Licht und Farben. Vielleicht reicht ihm Kriegenburg hier die Hand. Doch wo Wilson meist auf weihevolle Verlangsamung setzt, ist Kriegenburgs Reich die Bewegung. Und die steht hier im Dienste des Traums oder des Rauschs, wo alles mit demselben Recht zur Rampe drängt: Eine bettvorlegergroße Kellerassel und ein Ahnenchor wie aus der Rocky Horror Picture Show. Oder eine einzelne Silbe, die hängen geblieben ist im Raum. Die Traumfiguren müssen dann synchron nach ihrem Rhythmus ticken: „Angst, Angst, Angst ...“

Bevor der Vorhang zur Pause fällt, erzählt Wilhelm von einer Lichtung, auf der ein Glaswürfel steht, in dem ein Kind zu einem Baum-Mann wächst. „Drinnen“, sagt Wilhelm, und die zappelnden Glieder sind längst seinem Häscherblick entwachsen, „Drinnen ist ebenso wie Draußen.“ Und: „Die Realität ist nur real, wenn sie real ist. Aber was ist unter dem wenn? Wie viele Stufen geht es hinab?“ Ist da Wilhelm nicht schon deutscher als sein Wald? Der blasse Amtsschreiber ein wirrer Bruder Fausts, der auf dem Grund der Dinge die finale Grundlosigkeit ahnt und darum verführbar wird?

Aus diesem Gedanken entsteht hier die Volkssage neu. Sie zeigt sich zugänglicher als bei Wilson und nicht so düster-romantisch wie in Michael Simons Dortmunder Version. Sie ist zärtlich, sehr verspielt, manchmal auch kindisch: Zwei Rudi Carrells schnallen Wilhelm auf einen elektrischen Stuhl, ein paar Geier reden beim Frühstück über „Ernie“ Hemmingway und ein Jägerbursche gibt den krachledernen Sexprotz. Das sind Nummern, die Aufmerksamkeit wollen und kriegen. Über weite Strecken aber gleicht die Inszenierung mehr einem ruhigen Strom als einem Musical, in dem die Songs Höhepunkte markieren und gleich noch selber füllen. Die Figuren mit ihren Ticks wirken, als hätten sie in Tom Waits’ schwermütig-rauer Musik ein langes Bad genommen. Wenn sie dann singen, dann ist das einfach nur richtig.

Man kann Kriegenburgs Gespür für skurrile und gnadenlos unbeschreibbare Momente noch so sehr bewundern, sie sind natürlich nichts ohne die wunderbaren Schauspieler. Paul Herwigs Wilhelm residiert in der Empfangshalle seiner Fantasie als liebenswerter Tollpatsch und Bewegungsvirtuose. Heiko Raulin wächst in vielen Rollen gleich mehrfach über sich hinaus. Und Natali Seelig, die Kriegenburg kürzlich aus München an die Wiener Burg entführt hat, gibt als Stelzfuß ein kleines Lehrstück in morbider Erotik. Mehrere Längen vor allem im zweiten Teil verzeiht man da gern.

Sabine Leucht