Leben mit Auschwitz

■ Myriam Anissimov hat eine Biografie über Primo Levi geschrieben, die seinen eigenen Betrachtungen wenig hinzufügt

Primo Levi überlebte Auschwitz jung und voller Hoffnung. 1919 als erstes Kind der Levis in Turin geboren, verbrachte er mit Ausnahme der Jahre 1944/45 sein gesamtes Leben in der Wohnung seiner Eltern. Er studierte Chemie und stellte seine Dissertation fertig, als die Deutschen Italien nach der Entmachtung Mussolinis 1943 besetzten und damit begannen, die Juden zu deportieren.

Primo Levi war auch Schriftsteller. Der Rang seiner Erinnerungen, Gedichte, Romane und Essays ist heute unumstritten, aber es war die Chemie, die ihm im Arbeitslager Buna-Monowitz das Leben rettete. Er blieb ihr sein Leben lang treu. Nun ist auf Deutsch die Lebensgeschichte Levis erschienen, verfasst von der französischen Journalistin Myriam Anissimov, die in seinem Leben „die Tragödie eines Optimisten“ sieht.

Jede Biografie hat es schwer, gegen Levis eigenes Werk anzuschreiben, denn der Kern seines Werkes ist eine biografische Erfahrung, nämlich Auschwitz. Levis Sprache ist schön und sparsam, destilliert auf das Notwendige. Diese Biografie ist lang und konzentriert sich doch vornehmlich auf die „öffentliche“ Person Levi, den Überlebenden. Wo sie sich bemüht, darüber hinaus Einblicke zu gewähren, wie in die Geschichte des italienischen intellektuellen Widerstandes gegen die Nazis, verliert sie den Kontakt zu Levi. Anissimov hat weder mit Levis Witwe noch mit seinen beiden Kindern gesprochen, der Grund bleibt offen.

Levi überlebte die Selektionsrampe in Auschwitz und kam im Frühjahr 1944 nach Buna-Monowitz, dem Arbeitslager der IG Farben. Der schweren Zwangsarbeit folgte die lebensrettende „Versetzung“ ins Chemielabor. In seinem bereits 1946 verfassten Buch „Ist das ein Mensch?“ beschreibt er auf kaum mehr als 200 Seiten sein Jahr der Entmenschlichung in einer Welt, in der der Mensch dennoch so lange lebt, bis er tot ist.

„Ist das ein Mensch?“ ist eines der wichtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts. Es schildert nicht primär die Leiden Levis in Buna-Monowitz, sondern das Leidensbild aller darin Gefangenen. Er beschreibt und analysiert einen Mikrokosmos, Dantes Hölle. Dort war kein Platz für falsche Sentimentalität oder Schonung derer, die, obwohl selbst Opfer, zu Tätern wurden.

Levi gelang, was unmöglich schien: Mit dem distanzierten Blick des Wissenschaftlers und der Einfühlsamkeit des Künstlers vermittelte er die Erfahrung Auschwitz. „Ist das ein Mensch?“ führt seine Leser weit über das Mitleiden hinaus, ein ansatzweises Begreifen setzt ein. Als Adorno schrieb, dass es nach Auschwitz keine Gedichte mehr geben könne, glaubte er, dass es nie möglich sein wird, diese Erfahrung – gerade auch uns Deutschen – mitzuteilen. Levi dagegen war der Meinung, dass man nach Auschwitz nur noch Gedichte über Auschwitz schreiben konnte.

Der Terror lag im Detail der Erniedrigungen

It was the worst of times, it was the best of times. Einmal im Lager angekommen, lag der Terror nicht mehr in der Macht der Nazis, sondern im Detail der Vorschriften und Erniedrigungen. An ein Leben danach glaubte keiner der Insassen. Wer starb, starb lediglich früher.

Nach dem Vernichtungslager arbeitete Levi weiter als Chemiker und wurde ein anerkannter Spezialist für Lackbeschichtungen, brachte es schließlich bis zum Generaldirektor seiner Firma. Und er schrieb weiter. Der Erfolg als Schriftsteller setzte erst ab den 60er-Jahren ein. Er lebte mit seiner Frau und den beiden Kindern in bürgerlicher Sicherheit, bis er sich mit 68 Jahren 1987 im Treppenhaus seines Wohnhauses zu Tode stürzte. Er, der vehement mit Jean Améry gegen dessen Thesen zum Mord auf Raten nach Foltererlebnissen diskutierte und korrespondiert hatte, hatte sich schließlich das Leben genommen. Viele wollten es nicht glauben, wollten den späten Sieg von Auschwitz, wie sie meinten, nicht anerkennen.

Die Ursachen für die große Verzweiflung Levis sieht Anissimov in erster Linie nicht in der Auschwitzerfahrung, sondern in seinem Privatleben und in der Unvereinbarkeit seiner Erfahrungen, die er mit dem normalen Leben danach machte. In seinem späteren Leben dominierten die Angst vor einer unsicheren Existenz und die Enttäuschung über die ihm so lange verweigerte literarische Anerkennung.

Fast alle Bücher Levis sind auf Deutsch bei Hanser und dtv erschienen. „Ist das ein Mensch?“ ist inzwischen in den meisten gängigen Sprachen erhältlich. Primo Levi veröffentlichte Romane, Gedichte, Artikel für La Stampa, Erzählungen und seine literarisch herausragende Autobiografie: „Das periodische System“.

In seinem letzten Buch, dem langen Essay „Die Untergegangenen und die Geretteten“, arbeitete Levi noch einmal seine Gedankengänge der letzten Jahrzehnte auf. Bedauerlicherweise ist es auf Deutsch vergriffen. Levis Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne, mit dem Überleben und dem Erinnern, gibt Aufschluss über seine Verzweiflung und seinen Kampf gegen die Ignoranz und für die Reflexion des Geschehenen, das sonst unweigerlich sinnlos gewesen sein wird.

Anissimovs Biografie von Primo Levi wurde weder in Italien noch in den USA mit großer Begeisterung aufgenommen. Die französische Originalausgabe enthielt zudem einige inhaltliche Fehler. Die Fehler sind wohl korrigiert, aber das Buch wird auch hierzulande hinter Levis eigene Schriften zurücktreten müssen.

Levi schrieb „Ist das ein Mensch?“, obwohl er überlegte, „ob es recht sei, dass von diesem ungewöhnlichen Menschendasein überhaupt ein Andenken verbleibe“. Doch obwohl er seinen Gott im Lager verloren hatte, bejahte er seine eigene Frage und war überzeugt, „dass kein menschliches Erleben ohne Sinn ist“. Auch wenn das Überleben mit dem Brot eines Sterbenden erkauft ist. Die Geretteten aber waren für ihn letzten Endes nur die Toten.

Der Historikerstreit in Deutschland und die zunehmende Präsenz der Holocaust-Leugner deprimierten Primo Levi zutiefst. Er hatte den Dialog mit seinen deutschen Lesern gesucht, war über die bemühte Rechtfertigung einiger Leser enttäuscht, blieb aber immer bemüht, einen Sinn im Geschehenen zu sehen. 1987 war er sich nicht mehr sicher gewesen.  Anette Jander

Myriam Anissimov: „Primo Levi. Die Tragödie eines Optimisten“. Philo Verlag, Bodenheim 1999, 638 S., 59,80 DM