Reliquien eines Lebens

Im Kunstverein Hannover changiert die Performancekünstlerin Marina Abramović mit ihren Aktionen zwischen Ritual und Rückbesinnung auf den Körper ■ Von Aureliana Sorrento

In einem hohen Schrank aus hellem Holz, der momentan im Kunstverein Hannover steht, liegen die Reliquien eines Lebens: Fotos, Kristalle, Santería-Kerzen, eine Ikone, Buchseiten, Stoffpüppchen, Notizen. Manches sind Souvenirs, die Marina Abramović von ihren Reisen durch China, Tibet und durch die Wüsten Asiens, Afrikas und Australiens mitgebracht hat. Manches stammt aus ihren und anderer Leute Performances vor zweieinhalb Jahrzehnten. „Privat Archeology“ nennt sich das Sammelsurium.

In der Tat zieht man Schublade für Schublade die Abramović-Welt heraus: Zeichen, Hinweise, Bekenntnisse. Wie die mit schwarzen Filzstiftfettstrichen umrahmte, vergilbte Buchseite, auf der von tibetischer Mystik die Rede ist, und von Energiewellen, die bei einer besonderen Konzentration des Geistes produziert werden. Oder das Foto eines tibetischen Heiligen, der auf einem Himalaya-Gipfel nackt bei minus 20 Grad ausharrt. Oder das Bild des Schwarzen Steins in Mekka mit der Erklärung, Kirchen und Tempel seien immer auf energiegeladenen Punkten der Erde erbaut worden.

Marina Abramović’ Lebenswerk – in diesem Fall darf man den Terminus wortwörtlich fassen – läuft seit je darauf hinaus: auf eine Art säkularisierte Mystik, die Energiefelder und dadurch Zustände überhöhter geistiger Klarheit im Verhältnis mit dem Publikum und mit Naturelementen herzustellen sucht. Ein ausgefallenes Anliegen, dem der Verdacht des Esoterischen anhaftet. In den Schraubstock der Aufklärung sollte man das Schaffen dieser Künstlerin sowieso lieber nicht spannen: Ohne Umschweife sagte sie einmal einer Interviewerin, was sie vom Vernunftdenken hält: „Das rationale Erkennen ist nur ein winziger Teil unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten. Der ganze Rest – die Fantasie, das Hellsehen, die Telepathie – ist völlig verschüttet.“

Gegen den „tiefen Bruch in unserem Naturverhältnis“ steht sie für die Rückbesinnung auf den Körper und auf die ihm innewohnenden, uns größtenteils unbekannten Kräfte. „Public Body – Artist Body“, mit diesem Titel schafft der Kunstverein Hannover nun einen Überblick über das Werk Marina Abramović’ von den Anfängen bis heute. Dass dies in Zusammenarbeit mit der Expo-Gesellschaft Hannover und als Teil des Expo-Kulturprogramms geschieht, wirkt wie eine ironische Randbemerkung zum technikgläubigen Tschingderassabum jeder Weltausstellung.

Auf einem weiß bezogenen Tisch ist ein Kunterbunt disparater Dinge ausgebreitet: Boots, Hut, Rasierschaum, Acrylfarbe, Rosmarin, Tabletten, Trauben, Kerzen, Pistole, Spritze, Stecknadeln, Rose, Peitsche, Scheren, Rasierklingen, Zucker, Honig, Wandnägel, Säge, Messer, Watte, Mullkompressen, Taue. Es sind die Gegenstände, die Abramović 1974 in der Performance „Rhythm 0“ verwendete: Nachdem sie die Galerienbesucher dazu aufgefordert hatte, das absonderliche Tafelbesteck an ihr auszuprobieren, verhielt sie sich völlig passiv. Was an jenem Abend in Neapel geschah, verraten die Dias, die an die Wand projiziert werden. Am Ende stand Marina Abramović wie ein weiblicher Christus da, mit starrem, feuchtem Blick und allem möglichen Foltertand am Leib.

In den frühen Siebzigern, als die Künstlerin noch in Belgrad lebte, hatten ihre Aktionen den Charakter von Initiationsritualen. Schmerz und selbst die Möglichkeit, bei der Aufführung umzukommen, plante sie mit ein. Sie wäre beinah erstickt, als sie einen Stern auf den Boden um sich baute, mit Benzin übergoss und anzündete. Einen Stern ritzte sie sich bei einer anderen Performance in den Bauch, durch Heizstrahlen brachte sie dann die Wunde zum Bluten. Sieht man derartige Szenen, wie sie in Abramović’ jüngster – im Schauspielhaus Hannover parallel zur Werkschau aufgeführter – Performance „The Biography“ auf Videobildern dokumentiert sind, fragt man sich, was die Künstlerin damit eigentlich im Sinn hatte. Musste sie eine Schuld an der Menschheit abtragen? Verwechselte sie sich mit Jesus?

Inzwischen weiß man, dass ihr das alles in erster Linie Protest bedeutete: gegen die Strukturen der Familie, gegen ihr Heimatland Jugoslawien, gegen den Kunstbetrieb. Aber die Siebziger sind fern – damals konnten Abramović und ihre Performancekunstkollegen so selbstzerstörerisch toben, dass die Knochen krachten, und den stierenden Zuschauern tatsächlich ein gerüttelt Maß Aufruhr in den Leib fuhr. Unsereiner kommt so etwas im Jahr 2000 einfach naiv vor.

„The Biography“ ist schon deshalb, weil sie drei Jahrzehnte Kunstschaffen und zweieinhalb Jahrzehnte Kindheits- und Lehrjahre resümiert, eine schrille Collage. Abramović hängt vom Schnürboden an einer kreuzartigen Vorrichtung mit Pythonschlangen in den Händen, Abramović peitscht sich aus, Abramović demonstriert, wie sie sich zwecks „Freeing the voice“ die Kehle aus dem Hals schrie, bis kein Ton mehr vorhanden war. Sie hat diese Memoiren aber in einen Rahmen gesetzt, der sie sehr wohl vom Bazillus der Ironie infiziert zeigt. Von ihrer Geburt („1946. Born in Belgrad. Father and mother partisans“) bis zur Begegnung mit dem deutschen Performancekünstler Ulay kommentiert sie verschmitzt aus dem Off Schluss-Ereignisse ihres Lebens. 1975 kreuzt die große Liebe auf: „Red drop of blood. White drop of sperm.“ Daraufhin ein Traum-Kunst-Paar: Abramović und Ulay. Sie gehen, tanzen, ohrfeigen sich, klatschen gegeneinander, was das Zeug hält, bis zum Kollaps. Alles endete freilich wie jede zweite Liebesbeziehung: „I stopped to like his smell.“ Das Ende wurde mit einer letzten gemeinsamen Performance grandios besiegelt: Aus gegensätzlichen Punkten der Chinesischen Mauer wanderten die Liebenden drei Monate lang aufeinander zu, um am Kreuzpunkt ihrer Wege voneinander Abschied zu nehmen. Während Maria Callas' „Casta Diva“ ertönt, steht Marina Abramović im Atlaskleid auf der Bühne und schwingt den Arm: „Byebye extremism, byebye beauty, byebye intensity, byebye structure, byebye Ulay.“

Hier fangen Leben und Kunst von vorne an, und „The Biography“ nimmt nonchalant die Kurve zum Humor. Abramović macht auf ihre Körperteile aufmerksam: „red lips, big nose ... small waste, large hips“, dann eine Pirouette: „Voilà Abramović“. Ernst dreinblicken mussten dagegen die Besucher der Venedig-Biennale 1997 vor ihrer Performance „Balkan Baroque“, die ihr den Goldenen Löwen eintrug – zu eindeutig nahmen die frischen Rinderknochen, die sie schrubbte, Bezug auf die Massengräber in ihrer Heimat.

Von „Video Portrait Gallery“ abgesehen, die aus 14 Kopfaufnahmen früherer Performances besteht, stellen die meisten Exponaten in Hannover nicht Abramović’ Körper, sondern den des Besuchers in den Vordergrund. Im „Bed for humane use“, dem ein Turmalinblock als Kopfkissen dient, kann man die Wirkung des Steins persönlich testen. Laut Abramović dürfte sich der Versuch effektiver erweisen als eine Sitzung beim Psychoanalytiker: Turmalin wirbelt angeblich das Unbewusste hoch. Die Quarze hingegen, mit denen Besen und Schrubber von „Crystal brush for non humane use“ besetzt sind, sollen zur geistigen Klarheit führen. Zwischen 1989 und 1992 reiste Marina Abramović dafür von Mine zu Mine durch Brasilien, schlief auf den noch nicht gesprengten Kristallblöcken und studierte deren Wirkungen auf den Körper.

Es ist nicht schwer, in ihrem Glauben an die Heilkraft von Mineralien Anklänge an Zauberpraktiken von „aboriginal cultures“ zu erkennen. Die Videoskulptur „Expiring Body“ spielt primitive Rituale und westlich-zivilisierte Kopflastigkeit gegeneinander aus. Auf der obersten Leinwand macht sich ein mit Schlips und Kragen ausstaffierter Herrenkopf Gedanken über die Zeit, im mittleren Bild führt ein Manntorso nach Trommel-Tamtam einen furiosen Brust-und-Bauch-Tanz auf, unten hüpfen Füße im Feuer. Betritt man den Raum, in dem „The Hunt“ vorgeführt wird – auf drei Leinwänden tanzende kopflose Männerkörper bei Trommelgedröhne –, muss man sich beherrschen, damit die eigenen Beine nicht auch anfangen zu trippeln. Das wäre eine verständliche Maßnahme nach dem gemächlichen Gang durch die Ausstellung. Zumal Marina Abramović’ Wink in Richtung vorzivilisatorische und extraeuropäische Kulturen seine denkwürdige Berechtigung hat. Wer würde aber in den Räumen eines Kunstvereins aus heiterem Himmel einen Veitstanz aufführen?

Marina Abramović: „Public Body – Artist Body“, bis zum 20. 2. im Kunstverein Hannover