Die CDU-Spendenaffäre und ihre Folgen (10): Die Franzosen halten die moralische Empörung über Kohl für übertrieben
: Endlich wird Deutschland normal

Wir schauten neidisch auf dieses kleineund scheinbartugendhafte Bonn

„Was soll nur diese öffentliche Lynchaktion? All diese Leute in Deutschland, die einen Exzess von puritanischer Gesinnung an den Tag legen und Moralpredigten halten? Wenn Kohl sich eine luxuriöse Villa gebaut hätte, mit einer Prostituierten in jedem Zimmer, meinetwegen. Aber so . . . Er hat doch nur Geld von Elf Aquitaine bekommen. Er hat sich nicht persönlich bereichert, sondern für das Wohl seiner Partei gehandelt. Dieses kollektive Psychodrama ist völlig überzogen. Was will man denn: Kohl hat eine historische Aufgabe erfüllt. Er hat Europa aufgebaut, die deutsche Wiedervereinigung herbeigeführt, sein Land stabilisiert und der extremen Rechten Einhalt geboten.“ In Paris, am anderen Ende der Leitung, regt Yves sich auf. Der alte französische Freund, ein aufrechter Streiter für alle linken Angelegenheiten, verteidigt vehement Helmut Kohl. Das hätte er wohl selbst nie von sich gedacht.

Auch der ehemalige Bonner Korrespondent Luc Rosenzweig schreibt auf Seite 1 von Le Monde: Deutschland sei „völlig von protestantischer Moral getränkt“ und mache Jagd auf „Helmut, den Verfluchten“. Und der Leitartikel des Point widmet sich der Zukunft des Kanzlers der Einheit: „Behalten wir zunächst einen kühlen Kopf! Eines Tages wird die Geschichte die Statue wieder aufrichten. Man wird aus der Nähe feststellen, dass sie sehr rissig ist. Aber selbst aus der Ferne wird man sie erkennen können.“

Auch mich verblüfft der moralische Tonfall in diesem Skandal. Seit Beginn der Affäre um die schwarzen Kassen habe ich mir einen Spaß daraus gemacht, eine kleine Liste der Lieblingswörter anzulegen. Am häufigsten wiederholen sich: „Schuld“, „Beichte“, „Buße“, „Absolution“, „moralischer Verfall“, „moralische Verfehlung“. Und um die Entrüstung zu unterstreichen, schmücken sich die Kommentare mit lateinischen Zitaten und mit Bezügen auf die griechische Mythologie. Pater Basilius, der Beichtvater Kohls, und der evangelische Bischof von Berlin wurden um Hilfe angerufen. Man wähnt sich tatsächlich eher in einem Beichtstuhl als in einer modernen Demokratie.

Auch die verbissene Wut, mit der Johannes Rau angeklagt wird, Flüge auf Kosten der WestLB gemacht zu haben, ist für Franzosen vollkommen überzogen. Wer in Frankreich würde Anstoß daran nehmen, wenn ein Landesfürst sich Kaffee und Bier für sein Hochzeitsfest bezahlen ließe? Die Blutgier der deutschen Presse, insbesondere von denjenigen, die noch vor kurzem dem Kanzler kein Haar zu krümmen gewagt hätten, ist schon recht inflationär.

Auch wenn sich die französische Sicht momentan besonders deutlich von der deutschen unterscheidet: Am Phänomen Kohl schieden sich schon immer die Geister. Er war immer ein Streitobjekt zwischen mir und meinen deutschen Freunden. Nichts hat sie so sehr aufgeregt, wie die Lobeshymnen, mit denen er im Ausland überschüttet wurde. Nichts verdrießt sie mehr, als dass dieser Staatsmann von Format und begeisterte Europäer sich international Anerkennung verschafft hat. Außerhalb seines Landes verkörpert Helmut Kohl einen verlässlichen Garanten, dem die Vereinigung eines vertrauenswürdigen Deutschland gelungen ist, das treu zu seinen Bündnispartnern steht, und der sich mehr als jemals zuvor um das „Haus Europa“ bemüht hat. Außerdem gefällt der Mann, weil er jovial ist und gern isst, weil er fähig ist zu Ausdauer und Optimismus und weil er sich schnörkellos und stolz zu seinem regionalen Akzent bekennt. Selbst in der hintersten Provinz Frankreichs war man gerührt von den Tränen, die „Helmut“ bei der Beerdigung Mitterrands geweint hat, und erfreut weiß man, dass Saumagen sein Leibgericht ist. Kohl zerstreute unsere Ängste und verjagte die alten antideutschen Dämonen, die noch in unseren Gehirnen schlummerten. Der gute, dicke Nachkriegsspießer, eingezwängt in seinen steifen Anzug, hatte den bedrohlichen Teutonen mit der Pickelhaube verdrängt. Patriotisch ohne Gewissensbisse, seinem Land zugetan und ohne Angst, das zu äußern, verkörperte Helmut Kohl für uns ein unaufdringliches und harmloses Deutschland. Schließlich stellte Kohl alle zufrieden. Die Ausländer, weil er wie ein Handschuh um diese simple und gedankenlos herablassende Karikatur passte, die sie sich von dem heutigen Deutschland machten. Die Deutschen, die 16 Jahre lang diesen Kanzler wiederwählten, weil er also irgendwie doch zu ihnen passen musste.

Wenn meine Freunde und ich über Kohl sprachen, haben wir uns am Ende immer gestritten. Aber wir waren uns in einem Punkt einig: Immerhin war er nicht korrupt. Und wir glaubten alle diese Geschichten, die die Legende ausschmückten: Kohl zahlte seinen Kaffee in der Bundestagskantine selbst und kam aus eigener Tasche für die Briefmarken seiner privaten Post auf. In Frankreich bewunderten wir diese „moralische Republik“, die so im Gegensatz stand zu unserem Land mit seinen ständigen „Affären“. Um nur an einige zu erinnern: die Abhöraktion Mitterrands, mit der er seine engsten Mitarbeiter ausspionierte; die Sozialwohnung, die aufwändig von der Stadt Paris renoviert worden war, um sie dann für einen Spottpreis an Alain Juppé zu vermieten; die üppigen Geschenke an Roland Dumas, die er von Elf Aquitaine durch seine Geliebte erhielt, damit er für ein zweifelhaftes Waffengeschäft bürgt. Vom Élysée-Palast bis zu den kleinen Rathäusern in der Provinz lässt die Korruption niemanden aus. Wir waren abgestumpft. Angewidert. Wir schauten neidisch auf dieses kleine Bonn, idyllisch und tugendhaft, das keine Entgleisung zuzulassen schien. Wir konnten nur darüber schmunzeln, dass Rita Süssmuth den größten Ärger damit hatte, ihren Dienstwagen an ihren Mann verliehen zu haben. Das sind Lappalien in den romanischen Ländern!

Und was entdecken wir Franzosen nun? Einen autoritären Parteichef, der keine Kritik zuließ und neue Ideen im Keim erstickte, einen jämmerlichen und sturen Patriarchen, der sich hinter einem Ehrverständnis verbarrikadierte, das eines Römers mit Schild und Schwert würdig gewesen wäre. Einen deutschen Kanzler, der sich Geschenke „zum Wohle seiner Partei“ machen ließ. Und nur Gott weiß, welche Überraschungen diese unglaubliche Affäre noch für uns bereithält! Und irgendwie sind wir auch etwas schadenfroh. Dieses Deutschland, das immer das Bedürfnis hatte, die ganze Welt zu erziehen, und das immer ein dezentes Misstrauen gegenüber den „Ländern des Club Med“ pflegte, ist ein Land wie alle anderen mit seinen Tugenden und seinen Lastern. Wir feiern die Ankunft der deutschen „Normalisierung“. Bonn war auch nicht besser als Palermo oder Marseille.

Kohl verkörperte für uns ein unaufdringliches und harmloses Deutschland

Pascale Hugues

Übersetzung: Sabine Vogel