: Feuerwerk für den Drachen
Die Chinesen versprechen sich vom neuen Jahr des Drachen Glück und Reichtum. 800 Millionen pilgern zum Familienbesuch und Böllern aufs Land ■ Aus Peking und Gohan Georg Blume
Das allen Chinesen Glück und Reichtum versprechende Drachenjahr beginnt. Und das ausgerechnet im Jahr 2000. Doch gleich zu Anfang läuft etwas schief: Vor den Augen bestellter westlicher Fensehkameras lassen sich Mitglieder der xenophoben Meditationsbewegung Falun Gong (Himmlisches Rad) in der Neujahrsnacht zum Samstag auf dem Tiananmenplatz in Peking filmen. Der Westen sieht wenig später im Fernsehen, wie die Sektenanhänger von Beamten der zivilen Sicherheitspolizei verschleppt und mit Füßen getreten werden, als hätte die blutige Niederschlagung der Studentenbewegung von 1989 erst gestern stattgefunden. Ausgerechnet an dem Neujahrstag, der wie kein anderer das Zukunftsvertrauen der Chinesen stärken soll, herrscht im politischen Zentrum der Volksrepublik düstere Repression. Das zumindest ist die Botschaft, die ein paar hundert Falun-Gong-Gläubige am Wochenende auf äußerst effektive Weise dem Ausland vermitteln.
In China selbst aber wäre die Aktion auch ohne den staatlich verordneten Medienblackout nicht beim Publikum angekommen. Sie fand schlicht zum falschen Zeitpunkt statt. Wenn es nämlich einen Tag im Jahr gibt, an dem die Bürger der Volksrepublik nicht nach Peking zum Tiananmenplatz schauen, dann ist das der Neujahrstag. Sein Politikum liegt heute in der Ferne zur Politik – in einem Land, in dem die Politik oft alles bestimmte.
Chinas wichtigstes Fest erklärt sich grundsätzlich oder einfach aus der Gewohnheit. Man feiert das Neujahr am ersten Tag des alten chinesischen Bauernkalenders. Hier heißt das alte Jahr nicht 1999, sondern Yimao, und das Jahr 2000 trägt den Eigennamen Gengchen.
Der Neujahrstag, der sich alljährlich in einem Zeitraum von drei Wochen verschiebt, symbolisiert die Begegnung von Sonne und Mond. Die befruchten sich gegenseitig, um ein neues Jahr zu gebären. Der Tag lässt sich auch als Kulminationspunkt der Jahreszeiten verstehen: Frühling und Sommer unterstehen der Sonne oder dem männlichen Yang-Prinzip, Herbst und Winter folgen dem Mond oder dem weiblichen Yin-Prinzip.
Der dualistische Yang-Yin-Gedanke ist die Grundidee der chinesischen Kosmologie. Ihr zufolge gibt es alle 60 Jahre eine Zeitenwende ähnlich unseres Jahundertwechsels. In ihnen wird fünfmal der Zyklus der zwölf Tierkreiszeichen durchlaufen, jetzt folgt auf das Hasen- ein goldenes Drachenjahr. Seit 1837 vor Christus folgen die Chinesen dieser Zeitrechnung. Doch außer bei den populären Tierkreiszeichen nimmt man die alte Kalenderphilosophie kaum noch zur Kenntnis.
Kurz vor Neujahr herrschen in China heute Chaos und Kaufrausch. Da wimmelt es in den Bahnhöfen voller Menschen, die bepackt mit den Armengeschenken Schnaps, Zigaretten und Papierblumen zu den Eltern in die Provinz drängen. Die Supermärkte quellen über von der kaufsüchtigen Mittelschicht, die sich für die siebentägige Festwoche mit Braten, Obst und Wein eindeckt.
Die Leute haben keine Zeit, sich auf alte Traditionen zu besinnen. Eigentlich müssten sie schon am 23. Tag im zwölften Monat des Bauernkalendars die Himmelfahrt des Ofengottes feiern, der nach altem Glauben über das Familienleben der Menschen im Himmel berichtet. Doch bis zum Heimatdorf sind es meist tausende von Kilometern. Und wer in der Großstadt zu Hause ist, rechnet in den kommenden Tagen nicht nur mit der Verwandtschaft, sondern auch mit Besuchen von Vorgesetzten und Arbeitskollegen, die im sozialistischen China ein Stück Familie ersetzt haben.
Der alljährliche Neujahrstreck auf die Dörfer lässt sich als größte Völkerbewegung der Moderne beschreiben. Achthundert Millionen Chinesen begeben sich in diesen Tagen auf die Reise. Man stelle sich jeden einzelnen Europäer vor, wie er oder sie mit Sack, Pack und einen Kind auf den Arm einen Platz in Bus, Bahn oder Flugzeug ergattern will, multipliziere diese Zahl mit zwei und addiere noch einmal die Bevölkerung Deutschlands hinzu. Vergleicht man dann die Stimmung unter den Neujahrsreisenden in der Eisenbahn mit der Ferienstau-Atmosphäre auf deutschen Autobahnen, ist ein wenig Respekt vor der sonst so gar nicht sprichwörtlichen Höflichkeit der Chinesen angebracht.
Zu Hause werden die Rückkehrer sehnlichst erwartet. In Gohan, einem kleinen Dorf in der Nähe des Gelben Flusses in der Provinz Henan, ist das Neujahrsfest schon lange vorbereitet worden. Rund um die Hausportale aus roten Ziegelsteinen kleben die jedes Jahr gleichlautenden Neujahrsverse. Sie versprechen eine gute Zukunft und hohe Ersparnisse. Daneben prangt an fast jeder Tür das Schriftzeichen für Geld und Reichtum.
Wichtigstes Element der bäuerlichen Festdekoration sind die roten Laternen, die wie im Westen die Weihnachtskerzen den Winteralltag in ein anderes Licht tauchen. Eigentlich sollen sie die bösen Geister des alten Jahres vertreiben. Seit fünfzig Jahren aber signalisiert ihr Rot, das die Geister angeblich fürchten, auch die Farbe von Staat und Partei. Es fällt deshalb gar nicht auf, dass die meisten Bauern zum Neujahrstag auch die Nationalflagge vor der Tür hissen.
Doch nicht jeder besitzt Laterne und Fahne. Der Bäuerin Lui Feng in Gohan fehlen die Mittel für die Neujahrsausstattung. Sie hat fünf Kinder geboren – erst das letzte war ein Sohn – und damit dreimal gegen die Familienplanungsvorschriften verstoßen, die bei Erstgeburt einer Tochter auf dem Land noch ein zweites Kind erlauben, aber kein weiteres mehr. Jetzt muss ihr Mann als Bauarbeiter in der Stadt die Strafabgaben für die Kinder verdienen und kehrt nur zu Neujahr in die Familie zurück. Gespannt warten Frau und Kinder: Ohne den Vater wird es auch das eine Mal im Jahr kein Fleisch geben und sogar das traditionelle Maultaschenmahl in der Silvesternacht muss ausfallen. Viel schlimmer aber wäre für die Kinder der Verzicht auf ein paar Tüten China-Böller.
In Deutschland weiß man nicht, was echte China-Böller sind. Was in Europa unter diesem Namen bekannt ist, müsste in China hergestellte Export-Böller heißen, so wenig haben sie mit richtigen China-Böllern gemein. Die sind grundsätzlich ohrenbetäubend laut, zischen und pfeifen zwischen dem grölenden Publikum hindurch und nehmen keine Rücksicht auf Sicherheitsvorschriften. Jedes Jahr gibt es in der chinesischen Silvesternacht abertausend Verletzte durch die Knallerei. In Peking und Shanghai sind Feuerwerke deshalb verboten.
Es lohnt sich in dieser Nacht auf dem Dorf zu sein: Ländliche Idylle vergeht im Nu in einem Feuerregen, unter dem es donnert wie in einer Kanonenschlacht. Die Erde scheint zu beben, und jedem Fremden drängt sich der Verdacht auf, das nun der Moment gekommen ist, von dem schon Napoleon Bonaparte gesprochen hatte: „Wenn China aufwacht, bebt die Welt.“
Am nächsten Tag wacht China mit einem Kater wieder auf – in der Stadt so wie auf dem Dorf. „Ich habe bis drei Uhr morgens Majiang gespielt“, gesteht eine Beamtin des Binnenhandelsministerium, die am Neujahrstag ihren Sohn zum Schlittschuhlaufen im Pekinger Taoranting-Park begleitet. Majiang war in der Volksrepublik lange Zeit ein berüchtigtes und verbotenes Spiel, da es ebenso wie die verkrüppelten Füße der Frauen und die Opiumsucht für die alte, verrottete Gesellschaft stand. Mit den kapitalistischen Reformern der vergangenen Jahre aber hat Majiang die Republik im Nu zurückerobert. „Natürlich spielen wir zu Neujahr um Geld“, sagt die Beamtin mit vom Feiern getrübtem Blick. „In China hat das Neujahrsfest nichts Besinnliches. Wir Erwachsenen wünschen uns größeren Reichtum, und die Kinder bekommen Geld von den Verwandten.“
Die für chinesischen Verhältnisse wohlhabende Stadtgesellschaft, die am Feiertag ihr Vergnügen im Taoranting-Park sucht, gibt sich nüchtern und modern. Man trägt bunte Winterjacken über Jeans und nimmt aus gegebenen Anlass den Ehepartner an die Hand. Anderswo geht es ein bisschen exotischer zu. Seit die Kommunistische Partei Anfang der achtziger Jahre die von Mao geschlossenen Tempel wiedereröffnen ließ, drängen sich im taoitischen Tempel „Weiße Wolke“ nicht weit vom Tiananmenplatz zu Jahresbeginn die Pilger. Hier gibt es einen in Stein gemeißelten Affen, der den Menschen Glück bringt, wenn man ihn mit der Hand berührt. Zu hunderten stehen die Pilger am Neujahrstag vor dem Affen Schlange. Anschließend können sie für umgerechnet zwei Mark fünfzig Kupfermünzen erstehen, um sie von der „Brücke des Windes“ in ein drei Meter tiefes Steinbecken zu werfen. Darin hängt eine kleine Glocke, die beim Auftreffen einer Münze einen „goldenen Klang“ ertönen lässt. Auch das verspricht Glück. Doch offenbar nicht in der taoistischen Variante weltlicher Enthaltsamkeit. Die Masse giert nach dem Glockenglück, stößt und schubst, so dass kaum ein Wurf sein Ziel erreicht. Unten im Steinbecken schuftet derzeit ein Tempeldiener, ungeachtet der Münzen, die auf ihn einprasseln. Mit der großen Sandschaufel wuchtet er das runde Kupfer in einen Bottich, den andere mit einem Seil hochziehen.
Die Szene lässt jede Religiösität vermissen. Dass im Tempel auch Glaubensfragen eine Rolle spielen, daran erinnern vor allem die Parteislogans, die vor der dreihundert Jahre alten „Halle des Jade-Kaisers“ keinem Blick entgehen: „Wir hoffen Tag und Nacht auf die Vereinigung des Vaterlandes“, melden die Kommunisten ihren Neujahrswunsch an.
Die Chinesen allerdings wissen, dass man Wünsche nicht offen ausspricht. Vielleicht ist das ein Grund, warum sie sich auch an ihrem wichtigsten Feiertag weltzugewandt und pragmatisch geben. Das mag manches verbergen. Das anbrechende Drachenjahr gilt als besonders erfolgsversprechend. Soziologen erwarten deshalb einen Anstieg der Geburtenrate in diesem Jahr. Genauso könnte die Zahl der Hochzeiten zunehmen. Gerade über Kinder- und Hochzeitswünsche aber redet man nicht. Doch diese Wünsche – gekoppelt mit dem offen eingestandenen Begehren nach Reichtum – sind widerum auch sehr weltzugewandt und pragmatisch. Man kann den Chinesen auch an dem Tag, der immer wieder mit Weihnachten im Westen verglichen wird, kein tieferes religiöses Begehren nachsagen. Das aber lässt darauf hoffen, dass es die Sektierer beider Seiten, die am Freitagabend den Tiananmenplatz unsicher machten, nicht einfach haben werden.
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