: Wenn der Lokführer will, rast er
■ Bei der Bahn gibt es kein flächendeckendes Sicherheitssystem zur Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit. Nur ICE-Schnellfahrtstrecken sind damit ausgestattet
Als der Trans-Europ-Express Nummer 66 den Bahnhof Aitrang passierte, bemerkte der dortige Fahrdienstleiter sofort, dass etwas nicht stimmen konnte: Der Zug auf dem Weg von München nach Zürich war viel zu schnell. Denn hinter Aitrang im Allgäu befand sich eine enge Kurve, die nur für Tempe 80 zugelassen war. Am 9. Februar 1971 fuhr der Zug, geführt von einem erfahrenen Lindauer Lokführer, mit 130 Kilometern pro Stunde. Die ersten drei Wagen entgleisten, kippten um und fielen in ein fünf Meter tiefes Bachbett. Nur zwei Minuten später fuhr ein Personenzug auf der Gegenstrecke in den verunglückten Express hinein: 28 Tote und 42 Verletzte waren die Bilanz.
Nur fünf Monate später, am 22. Juni 1971, die nächste Bahn-Katastrophe. Und der gleiche Unfallhergang. Bei Rheinweiler entgleiste der aus acht Wagen bestehende D 370 in einer Kurve wegen überhöhter Geschwindigkeit. Zugelassen waren 75 km/h, die Lok fuhr aber 140 km/h. 23 Tote und 142 Verletzte waren die Folge.
Die beiden Unfälle vor 29 Jahren verweisen direkt auf die Katastrophe von Brühl zu Beginn dieser Woche. In allen drei Fällen fuhr der Zug deutlich zu schnell. Jedes Mal waren die Folgen verheerend, weil Waggons nicht nur entgleisten, sondern umkippten und dabei schwer beschädigt wurden. Und: Bis heute gibt es bei der Bahn kein System, das solche Unfälle verhindert. Wenn der Lokführer schneller fährt als erlaubt, ist das Unglück häufig programmiert.
Nur die ICE-Züge verfügen über ein System, bei dem auch von außen die Geschwindigkeit ständig registriert werden kann – die sog. Linienzugbeeinflussung. Dabei werden die wichtigsten Zugdaten permanent in eine Überwachungszentrale übermittelt. Fährt der ICE-Lokführer zu schnell, kann der Zug von außen gestoppt werden. Allerdings ist die Linienzugbeeinflussung nur auf Schnellfahrtstrecken von 200 km/h und darüber eingerichtet. Fährt der ICE zum Beispiel durchs Ruhrgebiet, wo ein solches Tempo nicht möglich ist, funktioniert auch die Linienzugbeeinflussung nicht.
Bei allen anderen Zügen gilt: Überfährt ein Lokführer ein auf Halt gestelltes Signal, dann erhält der Zug eine automatische Zwangsbremsung. Ein Magnetsystem registriert den vorbeifahrenden Zug und sorgt dafür, dass die Bremsen anziehen. Schläft er im Dienst ein oder wird ohnmächtig, stoppt der Zug ebenfalls wie von selbst. Denn wenn der Lokführer den „Totmannknopf“ genannten Schalter nicht mehr drückt, bremst der Zug. Auch wenn der Zug an einem „Langsame Fahrt“ anzeigenden Signal viel zu schnell vorbeifährt, hält der Zug an. Nur: Wenn er erst nach dem Signal über das erlaubte Maß beschleunigt, registriert die Technik das nicht.
Jede Baustelle steht in einem besonderen Fahrplan
Der Zugführer erhält seine Informationen aus einem besonderen, detaillierten Fahrplan, der neben Uhrzeiten, Signalen und anderen Informationen auch die Höchstgewindigkeit enthält. Behindern Bauarbeiten die Fahrt, dann sind die „Langsamfahrstellen“ in einem weiteren Heft angegeben. Befiehlt ein Signal, wie im Fall Brühl, eine verminderte Geschwindigkeit, ist das durch eine Zahl – etwa „4“ für Tempo 40 – angegeben. Danach ist der Lokführer verpflichtet, diese Geschwindigkeit beizubehalten, bis er am nächsten Signal neue Informationen erhält – also nicht anders als im Straßenverkehr. Dies bestätigte ein Sprecher der Bahn der taz. Bei der Katastrophe von Brühl, wo der Lokführer an einer Baustelle auf ein Nebengleis geleitet wurde, das nur für Tempo 40 zugelassen war, verminderte der Lokführer zunächst die Geschwindigkeit wie geplant. „Die Langsamfahrstelle“ war offenbar richtig vermerkt, sonst hätten nicht zehn andere Züge vor dem D 203 den Streckenabschnitt ohne Zwischenfall passiert. Doch nach der Baustelle beschleunigte der Lokführer des Schnellzugs auf 122 km/h – und das noch vor dem nächsten Signal, wie ein Sprecher der Bahn der taz bestätigte. Dies widerspricht den Vorschriften. Die Geschwindigkeit ließ sich nicht von außen beeinflussen. So spricht alles für die Schuld des 28-jährigen Lokführers: menschliches Versagen.
Nachtfahrten sind Stressreisen. Gerade nachts, so berichten Bahn-Mitarbeiter, kann es in seltenen Fällen passieren, dass Lokführer bei rascher Fahrt „ins Schwimmen geraten“: Sie sehen zwar alle Signale, kennen ihren Fahrplan und registrieren Geschwindigkeitsbegrenzungen, aber sie wissen nicht mehr ganz exakt, wo sie sich mit ihrem Zug gerade befinden. Die Lokomotive selbst besitzt keine Scheinwerfer. Ihre Lampen dienen ausschließlich dazu, von anderen gesehen zu werden, nicht aber, um die Strecke zu beleuchten. Der Unfall von Brühl geschah am Sonntag um 0.12 Uhr.
Alle Strecken sicher zu machen würde Jahre dauern
Was tun? Nachtfahrten zu verbieten käme wohl selbst eingefleischten Bahn-Kritikern nicht in den Sinn. Sämtliche Gleise der Deutschen Bahn mit einem hochmodernen Geschwindigkeit-Sicherheitssystem zu versehen, würde Jahre dauern, Milliarden kosten und Heerscharen von Bahn-Mitarbeitern an Computerbildschirme zwingen. Auf die Idee, Ähnliches für Lkw und Personenwagen zu verlangen, die durch überhöhte Geschwindigkeiten jedes Jahr tausendmal mehr Menschen ins Jenseits befördern, ist noch niemand gekommen. Das Restrisiko bleibt.
Die moderne Elektrolok von Brühl verfügte über einen Fahrtenschreiber, der den genauen Unfallhergang besser aufklären kann. So etwas gab es vor 40 Jahren nicht, damals allerdings waren in der Regel zwei Mann auf der Lok: Der Führer und sein Heizer. Beide konnten sich gegenseitig kontrollieren und auf Fehler aufmerksam machen. Doch der Heizer auf der E-Lok ist längst abgeschafft – und es bestehen Zweifel, ob er denn letztlich immer in der Lage ist, ein Unglück zu verhindern.
Am 17. Juli 1911 übernahm ein stark alkoholisierter Lokführer den Schnellzug Nummer 11 in Basel. Unterwegs schlief der Mann ein. Kurz vor Müllheim fuhr die Dampflokomotive mit damals rasenden 115 Stundenkilometern – doch im Bahnhof war nur Tempo 20 erlaubt. Der Zug entgleiste, 14 Tote und 32 Verletzte waren die Folge. Der Heizer hatte den Zustand seines Lokführers sehr wohl bemerkt. Allein, er wagte nicht einzugreifen – aus Respekt vor dessen Autorität.
Klaus Hillenbrand
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