Kaukasische Dreieckslehre

Jenseits des westlichen Wertesystems: Zwei Dokumentarfilme im Forum porträtieren Menschen im Kriegsgebiet – serbische Intellektuelle, die sich in Selbstbefragung üben, und einen agilen Geschäftsmann, der Lobbyismus für Tschetschenien betreibt ■ Von Christian Semler

Zuerst das säuberliche, rot gezeichnete Dreieck, das Blut bedeutet, Blutsbande der Tschetschenen. Dann das grüne Dreieck für den einen Gott, gelobt sei sein Name. Schließlich das weiße Dreieck. Es steht für Autorität. Richtig angeordnet, erhalten wir neun Spitzen für die neun Stämme Tschetscheniens. Ahmed Khost Nutschajew, Clanchef, Unabhängigkeitskämpfer, Geschäftsmann und ehemals Haupt der Tschetschenen-Mafia in Moskau, zeichnet in Jos de Putters Dokumentarfilm den Grundriss des künftigen Staatsaufbaus. „is“, erläutert er, heißt „neun“, „lam“ ist der Berg. Is-lam. Die Dreiecke sind die Berge. Sie halten die Erde im Gleichgewicht – und ihre Bewohner.

Spricht’s, verlässt seinen zur Festung ausgebauten Wohnsitz. Der Fond des gepanzerten Mercedes 600 wird von der Leibwache aufgerissen. Los geht’s. Zur projektierten neunspitzigen Mustersiedlung oder zum Flughafen, nach Baku, Istanbul oder zum Sitz der Kaukasischen Wirtschaftsgemeinschaft in London, auch sie ein Geschöpf des Vielbegabten.

Khost ist ein gut aussehender Herr Mitte vierzig, verteilt Geldscheine an die demütige Klientel und hantiert mit seinem Stock wie Friedrich II. von Preußen. Er agiert sanft, aber autoritär – von der kaukasischen Kopfbedeckung bis zu den Stiefeln. Der Filmer de Putter ist seinem Objekt rettungslos verfallen, er gehört gewissermaßen zu Khosts Entourage. Was dem Film an Distanz, an kritischem Kontrast abgeht, gewinnt er allerdings an atmosphärischer Dichte. Wir werden ins Vertrauen gezogen, sitzen mit an der Tafel des Mächtigen, hören die Heldengesänge der Getreuen aus früheren, räuberischen Tagen in Moskau und werden Zeuge, wie Mansur Jachimczyk, ein konvertierter Banker aus Polen, seinen Chef im Islamisten-Café am Bosporus über die Chancen im kaukasischen Oil-Business unterrichtet. Schließlich war Grosny, als es die Stadt noch gab, wichtige Station der Pipeline zum Schwarzen Meer.

In unseren Breitengraden, wo bereits die Person Adolf Hitlers im Nebel verschwindet, scheint es einfach nur pittoresk, wenn ein tschetschenischer Kämpfer stolz auf seine Kopfbedeckung verweist, die einst Scheich Mansur trug, der Unabhängigkeitskämpfer vor 200 Jahren. Die Stärke von de Putters Film besteht gerade darin, uns in den Sog dieser Vergangenheit zu ziehen, in ein Selbstverständnis, das jenseits des Zeitmaßes unserer Zivilisation liegt – das sich aber gleichzeitig der Rädchen und Schräubchen des modernsten Kapitalismus zu bedienen weiß. Die Eroberung Tschetscheniens durch Putins Truppen wird Khost gelassen vom Hotel Aphseron in Baku herunter verfolgen – eine weitere Episode in einem vielhundertjährigen Kampf.

Während Khost das westliche Wertesystem höflich, aber entschieden zurückweist, fühlen sich in einer anderen Gebirgsregion, dem Balkan, die Menschen von ebendiesem Wertesystem zurückgewiesen. Einst galt Belgrad als Zitadelle westlicher Lebensart und Gesinnung, seine Intellektuellen fühlten sich als überlegene Kritiker des Realsozialismus wie der neoliberalen Heilsbotschaft. Dann kam Slobo, der losgelassene Nationalismus, kam das Renegatentum so vieler unabhängiger Geister, kamen Wirtschaftskrise, verlorene Kriege, schließlich die Massenvertreibungen im Kosovo und das Bombardement der Nato von 1999. Was fühlten die Belgrader Großstadtmenschen, vor allem aber die demokratischen Intellektuellen, angesichts dieser „Nothilfe“? Sie fühlten sich bestraft, der Kollektivhaftung ausgesetzt, wie schon der Titel des Films „The Punishment“ von Goran Rebić nahe legt. Rebić’ Doku folgt der Machart des Interviewfilms: Die Gesprächspartner werden in ihren Milieus aufgesucht und frontal befragt. Kamerafahrten entlang zerstörter Donaubrücken oder bombardierter Bürosilos trennen die einzelnen Interviewkapitel. Dazu Bandoneonmusik, Straßenalltag, Demos. So konventionell der Rahmen, so aufregend, was die Interviewten mitzuteilen haben. In subtiler, an Selbstbeobachtung reicher, zwischen Eloquenz und stillem Selbstmitleid schwankender Rede erzählen sie die immer gleiche Geschichte ihrer enttäuschten Liebe „zum Westen“. „Sie wollen uns nicht mehr. Wir sind wieder Teil des westlichen Orients.“ So entschieden der Ekel vor Milošević, so undeutlich selbst bei langgedienten Regimegegnern das Gefühl der Verantwortung für die jahrzehntelange Unterdrückung der Albaner im Kosovo.

Anders nur die Reaktion der Befragten, wo schon vor 1989, dem Jahr der Beseitigung der Autonomie des Kosovo durch Milošević, familäre oder freundschaftliche Kontakte zu Kosovaren bestanden hatten. Die „kollektive Gleichgültigkeit“ angesichts des Leidens Anderer, die eine junge Intellektuelle in Rebić’ Film konstatiert – sie trifft nach wie vor auf das Verhältnis der meisten Belgrader Demokraten zu ihren albanischen „Landsleuten“ zu.

„The Making of a New Empire“. Regie: Jos de Putter, Niederl., 98 Min. Am 12. 2., 14 Uhr, im Delphi, 18.15 Uhr im Cinemaxx 3

„The Punishment“, Regie: Goran Rebić, Österreich, 98 Min. Heute, 20 Uhr, und 13. 2., 15 Uhr, CineStar 5. Weitere Termine: www.berlinale.de