Autor unter linguistischem Beschuss

Die wirrsten Grafiken der Welt (10): Das hochgefährliche Modell der literarischen Kommunikation nach Mettenleiter und Knoll

Im dritten Jahrhundert n. Chr. wurde ein Hauptmann der römischen Prätorianergarde, weil er seinen christlichen Glauben nicht ablegen wollte, zum Tode verurteilt. Der Legende nach deckten ihn Bogenschützen mit eintausend Pfeilschüssen ein. Botticelli, Mategna, Dürer, Grünewald, Riemenschneider und viele andere Künstler haben das Martyrium des Hauptmanns, der heute noch als heiliger Sebastian verehrt wird, ergreifend dargestellt.

In dieser ikonografischen Tradition steht auch das „Grundmodell der literarischen Kommunikation“, das die Linguisten Peter Mettenleiter und Stephan Knoll 1991 in ihr Werk „Blickfeld Deutsch“ aufgenommen haben. An den Platz des heiligen Sebastian ist hier ein Rechteck namens „Autor“ getreten. Die Pfeile, mit denen es beschossen wird, kommen von links („Idee“, „Stoff“, „Anstoß“), von rechts („Forderungen von Inhalt und Form“, „Forderungen des Mediums“) und von unten („Lesererwartungen“). Der dickste aller Pfeile freilich wird vom Rechteck „Medium“ auf Rechteck „Leser“ abgeschossen, das zugleich vom Rechteck „Distribution“ attackiert wird und sich mit dem mageren Pfeil „Bevorzugung eines Mediums“ nur unvollkommen zu verteidigen vermag.

Man sieht, literarische Kommunikation ist nichts für schwache Nerven. Da heißt es du oder ich, Auge oder Zahn, Geld oder Leben, und ruckzuck ist die Fresse dick! Es ist gut, dass Peter Mettenleiter und Stephan Knoll diesen Sachverhalt in seiner ganzen Brutalität enthüllt haben und dass Daniel Meyer aus Melle so freundlich gewesen ist, die Grafik zur Verfügung zu stellen. Dank an alle Beteiligten! Gerhard Henschel