Dunkle Erinnerung im Zeugenstand

■ Teilnehmer einer Diskussion um das „Schwarzbuch des Kommunismus“ stehen wegen versuchter Nötigung vor Gericht. Die Polizei half bei der Erstattung der Strafanzeige kräftig nach. Doch Beweise konnte die Amtsanwaltschaft nicht präsentieren

Gemütlich fängt der Prozess an: mit einer Pause. Richter und Justizangestellte des Amtsgerichts Tiergarten warten gelangweilt auf das Eintreffen der Zeugen. Die sind aus irgend einem Grund erst eine Stunde später geladen, und die sechs Angeklagten wollen sich nicht zu den Vorwürfen äußern. Sie nutzen die Pause, um in der Gerichtskantine essen zu gehen.

Im Juni 1998 sollen sie eine Buchvorstellung in der Urania gestört haben. Stéphane Courtois, Verfasser des „Schwarzbuch des Kommunismus“, sei ihretwegen nicht zu Wort gekommen, so der Vorwurf. Trillerpfeifen und platzende Luftballons hätten die Tonanlage der Urania übertönt. Die Amtsanwaltschaft wirft den jungen Leuten versuchte Nötigung vor. Anfangs lautete die Anklage noch auf Hausfriedensbruch. Doch ein Amtsrichter beschied, dass das Hochhalten eines Transparents mit der Aufschrift „Wer zählt die Opfer des Kapitalismus?“ und Unmutsäußerungen gegen den Referenten nicht den Tatbestand des Hausfriedensbruchs erfüllen.

Die Amtsanwaltschaft aber ließ nicht locker: Mit einer sofortigen Beschwerde erwirkte sie eine Verfahrenseröffnung – ohne ihre Anschuldigungen vor Gericht belegen zu können. Zwei in Zivil unter die lärmenden Urania-Gäste gemischte Polizisten konnten sich gestern „nur noch dunkel“ an die Vorfälle erinnern. Und auch der Leiter des Urania e.V., Ulrich Bleyer, war der Amtsanwaltschaft keine Hilfe. Er könne nicht ausschließen, dass auch Unbeteiligte festgenomen wurden, sagte er vor Gericht. Außerdem seien Courtois’ Aussagen bei der Veranstaltung durchaus zu hören gewesen.

Das reicht höchstens für einen Freispruch oder die Einstellung des Verfahrens. Also fordert der Amtsanwalt die Vernehmung weiterer Zeugen und die Auswertung von Fernsehaufnahmen. So lange wird das Verfahren ausgesetzt. „Die wollen uns unbedingt was anhängen, weil ihnen der Protest nicht geschmeckt hat“, stöhnt eine der Angeklagten. Schon ein Kommissar des Staatsschutzes hatte sich sehr interessiert gezeigt, die Störung der Diskussion vor Gericht zu bringen. In der Regel müssen Geschädigte nach Auskunft der Polizeipressestelle selbst aktiv werden, um Strafantrag zu stellen. Urania-Leiter Bleyer genoss dagegen einen vorbildlichen Behördenservice: Zunächst wurde ihm telefonisch „die Bedeutung eines Strafantrages erläutert“, per Fax folgte dann ein Vordruck, in dem Bleyer nur noch Name und Unterschrift ergänzen und die Hausordnung der Urania beilegen musste, um einen Strafantrag zu erwirken. Pech für den Staatsschutz allerdings: Die Urania hatte zum Zeitpunkt der „Schwarzbuch“-Präsentation keine Hausordnung, gegen die die Protestierer verstoßen konnten.

Dirk Hempel