Stunden vor der Schule stehen

Anbetungswürdig: „Die Straße nach Hause“ von Zhang Yimou (Wettbewerb) handelt von der Liebe in Zeiten der Kulturrevolution

An der Straße steht ein wattiertes Ei. An den Beinen trägt es formlose Filzstiefel und geblümte wattierte Pumphosen, darüber eine knallrote Jacke. Der Kopf ist mit einem dicken Schal umwickelt. Di steht seit Sonnenaufgang im Schneesturm an der Dorfstraße und wartet auf ihren Geliebten. Auf ihren Augenbrauen bildet der Schnee schon kleine Hügel.

„Die Straße nach Hause“ heißt der neue Film von Zhang Yimou – ein Film über die Liebe oder vielleicht eher über die Dinge und Menschen, die es wert sind, geliebt zu werden. Der Gegenstand der Anbetung ist bei Filmbeginn schon tot. Der Lehrer Changyu hat vierzig Jahre in einem Dorf in den Bergen unterrichtet. Sein Sohn kommt zum Begräbnis und findet seine Mutter in Tränen aufgelöst vor dem Schulhaus. Sie will ein richtiges Begräbnis, so wie es früher üblich war, vor der Kulturrevolution: Der Sarg soll nicht mit einem Auto gefahren, sondern von den Männern aus dem Dorf getragen werden. Das Problem dabei ist, wie der Bürgermeister gemütlich auf dem Bett sitzend erklärt, dass nur noch Kinder und alte Leute im Dorf wohnen. Wer also soll den Sarg tragen?

Diese Debatte sehen wir in Schwarzweiß. Dann die Rückblende, die Liebesgeschichte von Di und Changyu. In Farbe. Und was für Farben! Einmal steht Di in ihrer rosa Jacke auf einem Feld, hinter sich den leuchtend grünen Wald, vor sich ein dunkelgoldenes Weizenfeld. Di ist in den neuen Lehrer verliebt, der im Zuge der Kulturrevolution in das abgelegene Nest geschickt wurde. Changyu hatte sich selbst gemeldet, er war arbeitslos. Di lauert ihm auf, wenn er mit den Schülern nach Hause geht. Sie bekocht ihn. Holt Wasser an einer abgelegenen Stelle, weil der Weg an der Schule vorbeiführt. Steht Stunden vor dem Schulgebäude, weil sie seine Stimme liebt.

Bestimmt die Hälfte des Films liegt die Kamera auf dem hübschen Gesicht von Zhang Ziyi. Beobachtet, wie ihre Zöpfe fliegen, und wartet auf ihr hinreißendes Lächeln, wenn Changyu sie bemerkt. Vielleicht kann die Hauptdarstellerin nicht mehr als lächeln. Und doch bewahrt sie den Film davor, kitschig zu sein. Dafür ist Zhang Ziyi zu drollig. Man muss nur sehen, wie sie läuft. Es ist eher ein Wackeln. Ein wackelndes wattiertes Ei. So was unelegantes! So wie die zerbrochene Schale, aus der Changyu gegessen hat. Die Großmutter lässt sie flicken. Aber der Riss, der mit Nägeln geflickt ist, sieht aus wie eine Operationswunde. Nur als Objekt der Liebe ist sie danach noch wertvoller.

Politische Kritik ist hier nicht so offensichtlich wie sonst bei Zhang Yamou. Changyu wird abberufen, und weil er Di ohne Erlaubnis besucht, werden sie zwei Jahre getrennt. Dann darf er zurück. Milde, was? Abgesehen davon, dass das Dorf den Leichenzug wie von Di gewünscht organisiert: Hundert Schüler sind zum Begräbnis gekommen. Eine Orgie der Liebe, die einem einfachen Dorfschullehrer gilt. Mao würde sich vor Wut im Grab umdrehen. Aber wen hat der schon geliebt? Anja Seeliger