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Sehnsucht sucht Mitte

Liebe verwirrt: Laetitia Massons „Love Me“ im Wettbewerb ■ Von Andreas Becker

Der Anfang ist ein Schock. Sandrine Kiberlain tänzelt aus einer verranzten Wohnwagentür auf uns zu. Lockenwickler hat sie im Haar, einen pinkfarbenen, weiß getupften, grausigen Küchenkittel trägt sie. Sie tanzt auf uns zu, singt irgendwas Schnulziges von Elvis. Der staubige Parkplatz um sie rum wird immer größer. Sind wir in Amerika? Sind wir in Frankreich? Warum singt Kiberlain so schrecklich englisch und hört nicht auf?

„Love Me“ ist der dritte Film der französischen Regisseurin Laetitia Masson, den sie mit Kiberlain in der Hauptrolle besetzt hat. Die Trilogie begann 1995 mit dem wunderbaren „Haben (oder nicht)“, drei Jahre später folgte „Zu verkaufen“. Und langsam wurde auch klar, um was es Masson außer Liebe und Verlorenheit gehen könnte, die in Kiberlain scheinbar zufällig eine kongeniale Darstellerin gefunden hatte: „Nach „Haben (oder nicht)“ fing ich an zu entdecken, dass sie reich an Fähigkeiten war, von denen sie vielleicht selbst nichts ahnte“, sagt Masson.

Jetzt also „Love Me“. Ein Film, der sich mit Wucht in die Welt der Sehnsucht wirft. Ein Film, in dem Elvis-Bilder an Wänden von billigen Zimmern hängen. Ein Film, bei dem man nie genau weiß, wo man sich gerade eigentlich befindet. In fucking Memphis, wo alle hinwollen, um merkwürdige Popschreine anzubeten? Oder sind wir nicht tatsächlich in der Mitte der Sehnsucht angelangt mit „Love Me“? Sind wir endlich am Ziel angekommen? Oder sind wir längst verrückt, weil wir Kiberlain lieben und diesen Film auch?

Jedenfalls: Alles löst sich auf, Kiberlain hat nicht mal mehr einen Namen. Im Abspann heißt sie nur noch „The Girl“! Wie einfach, wie schön. Und wie kompliziert. Denn sie hat keine Arbeit, sie hat kein Zuhause und sie hat nicht mal eine Kindheit. Denn sie hat kein Gedächtnis. Und keine Eltern. Und ihre kleine Schwester, der sie in ihrer Fantasie begegnet, das ist sie selbst. Sie weiß es nur nicht. Mehr als zuvor verkörpert Kiberlain das, was man in Amerika ist, wenn jemand fragt: Are you lost?

Denn sie ist in Amerika und da wollen die Busfahrer einen nicht mitnehmen, wenn man kein Geld hat und einfach fragt, ob man nicht umsonst mitfahren kann. Dann nimmt einem der Busfahrer den Mantel weg, als Fahrkarte. Dabei lernt „The Girl“ eine andere kennen. Die ist auch verloren, also werden sich die Frauen lieben.

Aber Sandrine verliebt sich, und das ist tragisch, schicksalhaft in einen alten Sänger. Cool und sehr lonelyhearted gespielt vom „wahren“ Sänger Johnny Hallyday. Dem verfällt sie, als er einen kleinen, im Grunde abgefuckten Auftritt hat. Und dann ist sie plötzlich wieder in diesem Wohnwagen, mit ihrer „Schwester“. Und an den Wänden hängen Poster von diesem unglücklichen Sänger.

Masson verwirrt den Zuschauer immer wieder. Dieser Film ist ein Rätsel, das man lösen kann, aber gar nicht lösen möchte. Denn dann würde irgendwann vielleicht zu sehr die Psychoanalyse durchschimmern. Dann würden wir sagen: Dieser Sänger, ist das nicht ihr „Vater“? Und dieser elende Agent, der sie heimlich verfolgt, der Kinder mit Schalldämpfern erschießt wie im Traum, ist das nicht ein Engel, ihr Engel? Oder ist der das Unbewusste persönlich? Ist der etwa der Typ, der die Liebe sterben lässt, die „The Girl“ jetzt doch endlich finden soll, verdammt.

Aber sogar das Ende ist o. k., denn „The Girl“ tut das einzig Richtige: einem Schiff nachreisen. So. Mehr Verlorenheit war nie. Die Jury muss „Love Me“ den Goldbären geben. Ganz im Ernst.„Love Me“. Regie: Laetitia Masson; mit Sandrine Kiberlain, Johnny Hallyday, Frankreich 107 Min; heute, 16 Uhr, Berlinale Palast; 17. 2., 18.30 Uhr, Royal Palast, 22.30 Uhr International.

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