Ein kurzer Moment des Gesichtsverlusts

Klimawechsel in China: „There's a Strong Wind in Beijing“ (Forum) von Ju An Qi

Es war noch gar nicht richtig losgegangen, da war der erste Medienstar dieser Berlinale bereits gefunden. Doch der Begehrte hieß nicht DiCaprio – es war ein eher untersetzter Chinese namens Ju An Qi, 24 Jahre alt und mit seiner 48 Minuten langen 16-mm-Dokumentation „There's a Strong Wind in Beijing“ im Forum vertreten.

Warum die ganze Aufregung? Da ist zum einen die abenteuerliche Produktionsgeschichte: Der Filmhochschulabsolvent Ju An Qi drehte mit Freunden und Kommilitonen auf Material, dessen Verfallsdatum teilweise abgelaufen war, brachte die Rollen auf abenteuerliche Weise nach Berlin und schnitt hier erst Tage vor dem Festival den Film zusammen. Zum anderen ist „Strong Wind in Beijing“ ein für chinesische Verhältnisse radikales Projekt. Passanten werden auf der Straße direkt und unverblümt angesprochen – schon das ist in der Volksrepublik ein eher ungewohntes Vorgehen. Die bereits sichtlich verunsicherten Befragten werden dann noch mit scheinbar dämlichen, ja fast grotesk belanglosen Fragen konfrontiert. Am häufigsten: „Was halten sie vom Wind in Beijing?“

Ganz abgesehen davon, dass „Wind“ im Chinesischen noch weitere Bedeutungen und in China verschiedene Konnotationen hat, ist es natürlich viel interessanter, zu beobachten, was in den Gesichtern vor sich geht, als zu hören, was tatsächlich geantwortet wird. Ein großer Teil der Befragten wendet sich sowieso ab. Der Rest teilt sich in Ernsthafte und peinlich Berührte, denen aber eines gemeinsam ist: Fast alle lassen, bevor sie sich wieder fassen, nur für einen Moment, für einen winzigen Augenblick die Maske fallen, verlieren im wahrsten Sinne des Wortes ihr Gesicht – und das ist immer noch das Schlimmste, was einem Chinesen passieren kann.

Diese an Wiegald Bonings Straßenbefragungen für „RTL Samstag Nacht“ erinnernde Methode mag hierzulande der Stoff für Comedy sein, im Reich der Mitte werden damit Medien- und Politmechanismen ausgehebelt. So ist es möglich, einen „subjektiven Blick auf die Gesellschaft und die Realität“ (Ju An Qi) zu entwickeln, ohne dass die Filmemacher von der Zensur festgenagelt werden könnten. Mit der wahren Geschichte vom todkranken Kind bricht plötzlich und unerwartet dann die Realität in ihrer bösartigsten Form in den Film ein und bemächtigt sich seiner.

Bei uns mag Authentizität mittlerweile eine Kategorie aus der Steinzeit sein. Ju An Qi und Konsorten aber liegt sie noch sehr am Herzen: Die 48 Minuten sind das komplette gefilmte Material, keine Sekunde wurde weggelassen. Auch das bereits abgelaufene, schon etwas farbstichige Material ist vollständig vertreten.

Thomas Winkler „Beijing De Feng Han Da“. Regie: Ju An Qi, Kamera: Liu Yong Hong, China, 48 Min.; mit „Making Sun-Dried Red Peppers“ (Korea 1999) heute, 13.30 Uhr, Delphi, 18.15 Uhr, CinemaxX 3, 19. 2., 14.30 Uhr, Arsenal, 20. 2., 18.30 Uhr, CineStar 5