Pampuchs Tagebuch: Erweiterte Seelenverwandtschaft
Neulich hat mich meine amerikanische Nichte V. besucht und mir einige Aufschlüsse über unsere Welt im Allgemeinen und die USA im Besonderen beschert. Da habe ich in letzter Zeit offenbar einiges verschlafen. Was natürlich ganz allein meine Schuld ist, weil ich manche Angebote des Netzes einfach nicht nutze – obwohl doch alle Welt unablässig davon redet. Manchmal braucht man eben den persönlichen Stups, um wirklich zu erkennen, wo die Musik spielt. Jedenfalls hat meine Nichte (divorced/single) jetzt einen neuen Freund. Und sie hat ihn über das Internet kennen gelernt. Wie überhaupt die meisten ihrer Freundinnen und Freunde in Internetbeziehungen stecken. Ohne surf and chat läuft offenbar kaum noch was an in den USAOL. Dass dies die wichtigste Form des Anbandelns geworden ist, können auch die vielen neuen High-School-Filme nicht mehr verschleiern. Der American pie ist – egal ob Apple oder Dose – elektronisch geworden.
Wir verbrachten einen Nachmittag am Computer, und V. zeigte mir vergnügt und schwatzhaft, wie sich ihre Liaison im Netz entwickelt hatte. Sie demonstrierte mir, wie man sich im Gestrüpp der Angebote zurechtfindet, wie man siebt und testet, welche verborgenen Codes und welche Etiketten es gibt. (Schließlich könne man ja nicht gleich mit Telefonnummern und blind dates loslegen.)
Bisher habe ich die Internetkontaktbörsen immer nur für eine elektronische Lonely-Hearts-Variante gehalten, für das anstrengende Mit-der-Stange-im-Nebel-Stochern der herkömmlichen Kontaktanzeigen. Doch als mir meine gewiefte Nichte (die damit Monate verbracht hat) zeigte, wie man mit der „erweiterten Suche“ im „Mitgliederverzeichnis“ von AOL kreativ umgeht, wurde mir plötzlich klar, wie sehr das Internet dieses alte Spiel verändert hat. Nicht nur, dass nun hunderttausende – wenn nicht Millionen – beteiligt sind, die Einrichtung des „Mitgliederprofils“ macht es auch möglich, mit Hilfe der Suchfunktion aus dem globalen Topf durch kluge Kombination von Suchbegriffen schnell das Passende herauszufiltern. Partnerfindung nach dem Baukastenprinzip: „Have it your way!“
Kein Problem mehr also, in New Jersey einen Schachspieler in mittleren Jahren mit Interesse für italienische Opern zu finden oder welche Mischung auch immer uns Neigung und Fantasie eingeben. Die wenigen Rubriken des „Profils“ – von Wohnort, Alter und Geschlecht, bis „Hobby und Interessen“ und (als Joker) „Motto“ – ergeben einen riesigen Datenpool. Und jedes einzelne Wort zählt. Richtig spannend wird es deshalb, wenn man etwas originellere Begriffe eingibt. Spaßeshalber haben wir es mal mit „Bakunin“ versucht und immerhin 9 Frauen und 50 Männer gefunden, die ihn irgendwo im Banner führen. Der Begriff „Currywurst“ erbrachte in Deutschland ansehnliche 11 Profile – 3 davon sogar weiblich. Und mit dem wunderbaren Salsa-Musiker „Juan Luis Guerra“ wurden wir (in den USA) 5-mal fündig. Je origineller die Suchbegriffe sind, desto originellere Profile trifft man übrigens. Ist ja auch richtig so. Ganz nebenbei ist das Profilzusammenstellen – zumindest in den USA – im Begriff, zu einer neuen Kunstform zu werden. Wer es bewusst angeht, kann aus der gestrengen Form nämlich durchaus eine literarische Miniatur der Selbstdarstellung machen – um dann flugs Seelenverwandte zu finden, die mit den gleichen Codes operieren. Eine Art elektronischer Kommunikationslyrik, die tiefe Einblicke in das menschliche Brodeln erlaubt.
Erstaunlich, was man da alles finden kann. Nur einen Bakunin-Fan mit Interesse an Currywürsten haben wir nicht gefunden.
Thomas Pampuch
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