Zwischen den Rillen: Moloch Mülheim
Düster, noch düsterer: Bohren & der Club of Gore und Third Eye Foundation
In der gesamten Existenzphilosophie geht es darum, dem Menschen mit all seiner Angst und seiner unendlichen Einsamkeit wenigstens in einem Halt zu schenken: in der Versicherung seiner nackten Existenz. Ich bin noch nicht tot, also lebe ich. Bohren & der Club of Gore sind nun angetreten, selbst das Grundsätzlichste menschlichen Lebens, das Dasein selbst, anzuzweifeln. Wie kann ich leben, wenn ich gar nicht bin?
In den Bookletfotos der letzten Bohren-CD „Midnight Radio“ und von „Sunset Mission“ atmet die nächtliche Großstadt. Sie lebt, ist ein Organismus, durch dessen Adern aus Beton und Asphalt Neonlichter und Autos fließen. Die Großstadt existiert. Aber sie ist nicht mehr der Ort, an dem sich der Mensch über seine Entfremdung oder Nichtigkeit Gedanken machen könnte. Nein, denn die Großstadt hat sich längst von all den lästigen Lebewesen befreit, die sie erschaffen haben. Ihr Gott, der Mensch, ist tot. Straßen und Autos, Schienen und Züge, das ganze Geflecht aus Regeln und Technik hat sich von seiner Zweckbestimmtheit befreit, die Funktionalität im Dienste des Menschen verloren.
Horror. Albtraum. Worst Case aller AI-Apokalyptiker. Gegen dieses hypertrophe Szenario wirkt Mc Luhan mit seinem Gerede vom Menschen als Geschlechtsteil der Technik wie der Rudolf Steiner der Negativ-Utopien. Und darauf einen Tusch. Musik bitte, die Symphonie der Großstadt. Auftritt: Bohren & der Club of Gore.
Nacht. Sie folgt dem Sonnenuntergang und legt sich mit steriler Fäulnis über den Moloch. Ihr schwarzer Mantel ist aus Melancholie und Depression genäht, der die Schreie der verlorenen Seelen absorbiert. In „La Notte“ von Antonioni können die Menschen wenigstens noch resigniert ihre Verlorenheit akzeptieren, doch die Musik von Bohren bezieht ihre Intensität nicht aus einem Kunstfilm, sondern aus B-Movies. Die Nacht, die Bohren & der Club of Gore musikalisch thematisieren, setzt sich aus diesen Filmtiteln von Zombie-, Splatter- und Gore-Filmen zusammen. Grauen, Kälte, lebendig begraben sein, totes Leben. Dazu ganz viel „Twin Peaks“ und David Lynchsche Seelenkrebs-Spiegelungen, die in eine stoische Welt aus gefrorenem Barjazz, klanglichem Nichts und abgrundtiefer Schwerfälligkeit übersetzt werden.
Bohren & der Club of Gore kommen aus Mülheim/Ruhr, Dead-City. Was für ein Bandname. In Herschell Gordon Lewis’ Splatterklassiker „The Wizard Of Gore“ benutzt ein Zauberer neben Pfählen und Kettensägen auch einen Bohrer, um vor seinem gebannten Publikum nach den Gedärmen junger Frauen zu fahnden. Willkommen im Club der Grausamkeiten. In einem Interview meinte Lewis einmal, er würde in seinen Filmen auch gerne Männer aufschlitzen. Doch dafür würde er leider kein Publikum finden. Schmierige Männerfantasien bedienen. Blut, Schweiß, Bartstoppeln, Whisky, Oben-ohne-Bars. Auf der ersten Bohren-Platte „Gore Motel“ heißt ein Track „Dangerflirt mit der Schlägerbitch“, und auf einem Foto, das den vermeintlichen Übungsraum von Bohren zeigt, hängen an der Wand Kiss-Poster, eines von Bruce Lee, ein „Taxi Driver“-Filmplakat und vor allem jede Menge Pin-Up-Girls.
Der Kulturtheoretiker Steven Shaviro schreibt: „In George Romeros Trilogie der ‚lebenden Toten‘ verbreitet nicht die Furcht vor dem Tode Angst und Schrecken, sondern dass du nicht tot bleiben kannst und gezwungen wirst, wieder als einer von ihnen zurückzukehren.“ Diese Furcht, die früher bei Bohren so expressiv war, mischt sich nun mit Melancholie. Früher waren Bohren nur erdig. Ihre Musik war pestbeuliger Blackmetal in einem Zeitloch, der gerade sein Leben aushaucht. Anselm Kiefer in der Hölle, Totenmesse für Heidegger, Schmerzen durch Kellerloch-Frequenzen. Musik für Stunden dauernden Selbstmord, für ein Still, das den Night-Ripper beim Würgen zeigt, eine schwarze Messe aus Tonschabereien. „Sunset Mission“, drei Jahre nach der zweieinhalbstündigen Doppel-CD „Midnight Radio“, ist nun eher so etwas wie „Blair Witch Project“ ohne Ton, ohne hörbare Angstschreie. Die Bedrohung ist da, doch sie wirkt nicht mehr als allmächtiges physisches Etwas. Schade, wir haben unser Leben verloren, aber was soll man machen.
Auch Matt Elliott ist kein Prototyp der Spaßgesellschaft, der sich hinter dem Projektnamen Third Eye Foundation steht. Gerne unter dem Rubrum Postrock gelabelt, erstellt er düstere Kraterlandschaften aus Drum & Bass, Störgeräuschen, desorientierenden Samples und weitflächigen Klanggletschern. Doch so wie es bei Bohren & der Club of Gore plötzlich einen Sonnenuntergang gibt, versucht nun auch Third Eye Foundation den steinernen Defätismus von früher zu überwinden. „I’ve seen the light and it’s dark“, heißt es auf der früheren Platte „Ghost“ noch. Auf „Little Lost Soul“ wird nun sogar Gefühlen Platz eingeräumt. Liebe. „I’ve lost that loving feeling“ heißt der erste Track der neuen Platte. Okay, verlorene Liebe, verlorene Gefühle. Aber immerhin. Auch die Musik ist nicht mehr so totschlagend eindimensional. In den Regenwolken-Drum & Bass verlieren sich sogar Ornamente aus TripHop, morbiden Klangschönheiten, und – eine Sensation – in „Lost“ darf eine zarte Frauenstimme zu Gefrierhaus-Morricone-Klängen sanft seufzen. Der Mensch, bei Third Eye Foundation lebt er wieder. Wenn auch nur kurz. Das Millennium findet erst noch statt.Andreas Hartmann
Bohren & der Club of Gore: Sunset Mission (Wonder/EFA) Third Eye Foundation: Little Lost Soul (Domino/Zomba)
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