piwik no script img

Große Schwester, kleiner Bruder

Elena lebt in London und schreibt über den „kleinen Tod“ der Emigration. Maxim lebt in München und schreibt über deutsche Opfer und Täter. Oft telefonieren die beiden miteinander. Elena Lappin und Maxim Biller sind Geschwister. Eine Familiengeschichte ■ Von Kolja Mensing

„Meine Schwester hasst es natürlich, dass ich im Gegensatz zu ihr in Deutschland geblieben bin“

„I experienced a strong conflict between my desire to write and my reluctance to do so in German. So I moved away ... My brother (Maxim Biller) however, surprised me some years later by becoming a German writer.“

(Elena Lappin in „Jewish Voices, German Words“)

London, Stadtteil Islington, ein strahlender Wintertag. Es ist zwölf Uhr mittags. Die große Schwester ist pünktlich. Elena Lappin kennt ein arabisches Restaurant ganz in der Nähe. Es geht sofort los: Man muss Abstand zu der Sprache haben, in der man schreibt, sagt Elena Lappin, die Schriftstellerin, gerade. Auf Deutsch. „So you guys are from Germany“, fragt der Kellner. „No“, sagt Elena Lappin und zeigt auf den Platz ihr gegenüber: „Only he is.“ Der Kellner findet, dass wir uns ja trotzdem recht flüssig in dieser Sprache unterhalten würden. Genau darüber reden wir gerade, sagt Elena Lappin. Dann bestellt sie. Auf Englisch. Wie sonst.

Elena Lappins hat einen israelischen und einen britischen Pass, und der Einfachheit halber müsste man sie erst einmal eine englische Schriftstellerin nennen. In ihrem Erzählband „Fremde Bräute“, der im Herbst auf Deutsch erschienen ist, geht es um Frauen, die sich von einem Tag auf den anderen irgendwo am anderen Ende der Welt wieder finden. Weit weg von ihrem Heimatland, weit weg von ihrer Sprache: „Alle Emigranten haben dieselbe Grundgeschichte zu erzählen“, steht in einer der Erzählungen, „zunächst ein kleines Sterben, wenn sie ihre Heimat verlassen, dann kurzlebige Euphorie, wenn es so aussieht, als wäre ihnen die Chance geschenkt worden, ihr Lebensmanuskript in einer freien Gesellschaft umzuschreiben, und dann lebenslange Traurigkeit, sobald ihnen klar wird, dass sie die unwiderrufliche Wahl getroffen haben, sich von ihren Wurzeln abzuschneiden.“ – „To cut themselves off from their roots ...“: So beginnt die Geschichte. Eine Familiengeschichte.

Elena Lappins Eltern haben sich in der Sowjetunion kennen gelernt. Ihr Vater hatte einen tschechischen Pass, und 1959 zog die Familie nach Prag – in eine freiere Gesellschaft. Elena war drei Jahre alt. 1968 kam auch die sowjetische Armee nach Prag, und bald ging Elenas Familie ins Exil, nach Hamburg. Elena lernte Deutsch, in der Schule außerdem Englisch, mit ihren Eltern sprach sie Russisch und mit ihrem jüngeren Bruder Maxim Tschechisch. Elena machte in Hamburg Abitur, dann verließ sie Deutschland. Ihre Eltern sind Juden, und darum ging Elena nach Israel, um Wurzeln überhaupt erst einmal zu finden: „Ich wollte eine Heimat, mich irgendwo zu Hause fühlen.“ Maxim, ihr jüngerer Bruder, ist in Deutschland geblieben: „Ich glaube, er leidet darunter“, sagt Elena, die große Schwester. Dann verbessert sie sich: „Er muss ihnen schon selber sagen, ob er sich in Deutschland zu Hause fühlt.“

München, ein paar Tage später. Es ist kalt und regnerisch, der Himmel ist grau, und am Hohenzollernplatz sind nur wenige Menschen unterwegs. Maxim Biller, Elena Lappins jüngerer Bruder, wohnt hier ganz in der Nähe. Maxim Biller hat in den 80er-Jahren in Tempo die Kolumne „100 Zeilen Hass“ geschrieben, und er hat zwei Bände mit Kurzgeschichten veröffentlicht: „Wenn ich einmal reich und tot bin“ (1990) und „Land der Väter und Verräter“ (1994). In den Geschichten geht es oft um nichtjüdische Deutsche und deutsche Juden und darum, dass die einen gar kein Gewissen und die anderen ein viel zu gutes Gewissen haben. Oder umgekehrt. Manche der Geschichten spielen in Amerika, in Russland oder in Tschechien, doch man hat das Gefühl, dass es zuletzt trotzdem immer um Deutschland ging.

Ende März erscheint „Die Tochter“, ein über vierhundert Seiten langer Roman. Maxim Biller erzählt von Motti, der Anfang der 80er-Jahre als junger Mann im Libanon gekämpft hat, mit Kriegserinnerungen im Kopf nach Deutschland kommt, eine Deutsche heiratet und eine Tochter bekommt. Schreckensbilder sind dicht aneinander gereiht: sexueller Missbrauch, Holocaust, Battle-Shock-Syndrom. Es gibt Motti, das Opfer, und Motti, den Täter, und es gibt den Motti, der die Deutschen unterrichtet, die zum Judentum konvertieren wollen. Das Land der Väter und Verräter ist noch einmal das Land der Opfer und Täter.

Oder? „Viele Leute lesen den Roman als Buch, das mit deutschen Juden zu tun hat“, ärgert sich Maxim Biller. „Aber darum geht es überhaupt nicht. Null. Es geht einfach nur darum, wie man sich als Nichtdeutscher in Deutschland fühlt.“ Und Maxim Biller findet, dass man sich als Nichtdeutscher in Deutschland nicht besonders gut fühlen kann. Als seine Familie 1970 aus Prag nach Hamburg zog, war er zehn Jahre alt: „Es war schrecklich. Sind Sie schon mal in Hamburg Bus gefahren? Die Leute reden keinen Ton miteinander. Das ist, als ob da Tote sitzen!“

„Ich glaube, er leidet darun- ter ...“: Also. Warum ist er dann in diesem Land geblieben? Maxim Biller springt nervös von seinem Stuhl auf: „Sag ich Ihnen gleich, eine Sekunde“, ruft er aufgeregt aus dem Nebenzimmer. Er kommt wieder zurück in die Küche, mit einer Wolldecke, die er auf seinen Stuhl legt. „Finden Sie es auch so kalt hier?“, fragt er. Und dann sagt er: „Für manche Sachen bin ich einfach zu klein. Ich dachte, so wie ich bin, bin ich. So ist das Leben, habe ich gedacht.“

Maxim Biller lebt jetzt seit dreißig Jahren in Deutschland. Seine Schwester hat es nicht lange in Israel gehalten. Sie ist mit ihrem Mann nach Kanada gegangen, später nach Amerika und schließlich nach England. Die große Schwester hätte doch Vorbild sein können für eine Flucht aus dem kalten Deutschland: „Ein Vorbild? Im Gegenteil!“ Maxim Biller spielt den enttäuschten kleinen Bruder: „Die hat mich schließlich damals verlassen.“ Den ärgerlichen kleinen Bruder: „Meine Schwester hasst es natürlich, dass ich im Gegensatz zu ihr in Deutschland geblieben bin.“ Und den erwachsenen Mann: „Diese Stelle am Schluss von meinem Roman, das ist nicht so furchtbar ernst gemeint.“ Dort erklärt ein deutscher Jude, „wie schwer es ist, aus Deutschland wegzugehen, vor allem, wenn man es unbedingt will“.

Geschwister. Natürlich verstehen die beiden sich eigentlich sehr gut. Sie telefonieren beinahe jeden Tag, auf Tschechisch, wie sonst, und manchmal reden sie auch über Literatur. Maxim liest Elena dann etwas vor und fragt sie, wie sie es findet. Sie liest ihm nie etwas vor: „Er kann ja auch nicht so gut Englisch“, sagt Elena, die große Schwester, und Maxim, der kleine Bruder, erzählt, dass sie ihm früher jeden Abend vor dem Einschlafen ein Märchen erzählt hat. Eines, das sie sich selbst ausgedacht hat: „Seitdem denke ich, dass ich keine Fantasie habe. Ich hätte mir nie jeden Abend ein Märchen ausdenken können.“

Für „Fremde Bräute“ hat sich Elena Lappin ein Märchen ausgedacht, in dem ihr kleiner Bruder mitspielt. In der Erzählung „Die rosa Schleife“ erzählt sie von einem deutsch-jüdischen Schriftsteller namens Max, einem „arroganten, zynischen Intellektuellen“, dessen Roman „Einge- rahmt“ „wie eine düstere Stadtlandschaft war, bevölkert von Juden, Deutschen, Israelis, Osteuropäern, Amerikanern“. Es fällt nicht sonderlich schwer, in Max Maxim Biller zu erkennen. Oder? „Nein, nein, ich habe da verschiedene Schriftsteller, die ich kenne, zum Vorbild genommen“, sagt Elena. Maxim sagt: „Meine Schwester ist ein Feigling. Die hatte nur Angst, dass ich beleidigt bin.“ Ob er beleidigt ist, sagt er nicht.

„Die rosa Schleife“ liest sich wie eine Parodie auf eine Biller-Kurzgeschichte. Es gibt da die junge Deutsche, die unbedingt zum Judentum konvertieren will, die Geliebte des Schriftstellers Max, der in seinem Roman Geschichten erzählt wie die von dem „polnischen Rabbi, der nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrt und die ältere, behinderte Mutter eines seiner Nazi-Wärter pflegt“. The neurotic sound of Germany. Billers Sound. Auch in „Die Tochter“ findet man diesen Sound, nur gedämpfter, verregneter.

Islington, ein paar Tage zuvor. Die Sonne scheint. London sieht hier genau so aus, wie London aussehen soll: mit einem Straßenmarkt, kleinen Buchläden und Antiquitätenläden, netten Cafés. Ein orthodoxer Jude läuft vorbei, in dunklem Mantel, den Kopf gesenkt, unter seinem Hut gucken Gebetslocken hervor. Er stolpert über eine unebene Stelle im Pflaster, wird für einen Moment aus seiner Zerstreuung gerissen, macht einen kleinen Sprung, fängt sich wieder und läuft weiter.

In Deutschland redet man in letzter Zeit gerne von einer „jüdischen Renaissance“, einem „neuen Selbstbewusstsein junger Juden“ oder schreibt, wie Salomon Korn in der Zeit, über den „historischen Prozess, der vom Juden in Deutschland über den deutschen Juden hin zum jüdischen Deutschen führen wird“. Wenn man Elena Lappin nach dem Verhältnis von Deutschen und Juden fragt, guckt sie einen an, wie nur große Schwestern gucken können, und sagt: „Mir ist das egal.“ Pause. „Das ist eine typische deutsche Frage.“

Ganz egal ist es ihr natürlich nicht. Elena Lappin hat 1994 in den USA eine Anthologie veröffentlicht: „Jewish Voices, German Words“, mit Erzählungen und Essays von jüdischen Schriftstellern, die nach dem Krieg in Deutschland und Österreich aufgewachsen sind. Benjamin Korn ist dabei, Robert Schindel, Barbara Honigmann, auch Maxim Biller. Und vor nicht allzu langer Zeit hat sie in der englischen Literaturzeitschrift Granta einen langen Text über Binjamin Wilkomirski und seine gefälschte Autobiografie veröffentlicht: „Dieser Mann hat sich gedacht, dass es etwas ganz Tolles ist, ein jüdisches Opfer zu sein. Das ist eine Betrachtungsweise aus den 70er-, 80er-Jahren, die heute natürlich nicht mehr stimmt.“

Man möchte Elena Lappin und Maxim Biller am liebsten festlegen. Man möchte sich von ihnen eine einzige Geschichte erzählen lassen. Eine Geschwistergeschichte. Eine Familiengeschichte. Eine möglichst einfache Geschichte über Emigration oder über das Verhältnis von Juden und Deutsche und über den Wandel dieses Verhältnisses. Das wäre einfach, aber das geht nicht. Bei Elena Lappin geht es zum Beispiel deshalb nicht, weil ihre Biografie keine Festlegungen kennt. Weil sie auf Abstand besteht; zu ihrem eigenen Leben, ihren Geschichten, ihrem Bruder: „Wie finden Sie denn seinen Roman?“, fragt sie.

Bei Maxim Biller geht es unter anderem deswegen nicht, weil er in seinen Geschichten in komplizierten Denkbewegungen und verschachtelten Sätzen den Abstand sucht, den er zu Deutschland nicht hat. Oder weil er manchmal, wenn man ihm gerade eine wichtige Frage gestellt hat, einfach aus dem Zimmer läuft. Ein aufgeregter jüngerer Bruder.

Kurz bevor man Maxim Billers Wohnung verlässt, zieht er noch schnell ein Buch aus dem Regal. „Kronos“ von Rainald Goetz. Darin ist ein Telefongespräch zwischen Elena Lappin und Maxim Biller abgedruckt. Eines, das Rainald Goetz sich ausgedacht hat. Keine Zeit mehr, es zu lesen, der Zug fährt in zwanzig Minuten. Das ist das Problem. Es gibt einfach zu viele Geschichten. Demnächst erscheint im Berlin Verlag ein Buch mit autobiografischen Erzählungen. Der Arbeitstitel lautet „Die Melonenschale“, die Autorin ist eine geborene Russin, die seit vielen Jahren in Hamburg lebt. Sie heißt Raissa Biller und ist die Mutter von Maxim und Elena. Es gibt so viele Geschichten. Das ist das Schöne.Maxim Biller: „Die Tochter“. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2000, 448 Seiten, 45 DMElena Lappin: „Fremde Bräute“. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Kiepenheuer und Witsch, Köln 1999, 207 Seiten, 34 DMElena Lappin (Hg.): „Jewish Voices. German Words. Growing Up Jewish in Postwar Germany & Austria“. Aus dem Deutschen von Krishna Winston. Catbird Press, North Haven 1994, 301 Seiten, 13.50 Dollar

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen