Wessis, die besseren Ärzte?

Ostler wollen in Ostberlin, Westler in Westberlin medizinisch behandelt werden. Doch die Qualität der Versorgung ist gleich. Laborwerte müssen umgerechnet werden ■ Von Annette Rollmann

Schweigen liegt über dem Raum. Aufgereiht stehen Ärzte und Schwestern vor der Patientin. „Nein, wir kennen keine Krankenhäuser im Westen“, sagt eine Doktorin im weißen Kittel. Ihre Stimme ist kalt. Eben noch hatte sie sich um die junge Frau, die in das im Ostteil der Stadt gelegene Bezirkskrankenhaus Prenzlauer Berg eingeliefert worden war, bemüht. Die Diagnose war unklar: Entzündung des Blinddarms der Gebärmutter oder der Eierstöcke. Klar ist nur, die Patientin soll notoperiert werden.

Die 34-jährige Patientin aus Westdeutschland starrt die Ärzte an. Ihr Gesicht ist fahl. Möglicherweise werde man ihr einen Eierstock herausnehmen, hatten die Ärzte ihr gerade eröffnet. Zwar gebe es im Krankenhaus keinen Gynäkologen. „Aber das kann der Chirug auch entscheiden.“ Bauch auf, mal eben so?

Die Patientin erinnert sich an die Worte eines Bekannten, der aus Westberlin in den Ostteil gezogen ist: „Wenn es hart auf hart kommt, will man immer heim.“ Nach Hause. In vertrautes Terrain. Egal, ob berechtigt oder nicht. Wer weiß schon, was der Westen Berlins dem Osten zehn Jahre nach der Wende doch noch voraushat? Die Patientin sagt: „Ich will in den Westen.“ Der Satz ist gesprochen. Die Mauer steht.

„Im Gesundheitswesen gibt es nach wie vor eine mentale Grenze“, sagt der Geschäftsführer der Berliner Krankenhausgesellschaft, Uwe Slama. „Obwohl die Vereinigung Deutschlands in Berlin am weitesten fortgeschritten ist, wird es noch dauern, bis Berlin wirklich ein zusamengewachsener Stadtstaat ist.“ Oft würden Patienten nur innerhalb der alten Stadthälften überwiesen. Slama: „Das sind alte Beziehungen. Man kennt sich eben.“

Die Krankenhausärztin in Prenzlauer Berg fragt die Patientin zum Abschied: „Meinen Sie, die können das im Westen besser?“ Ohne wirklich eine Antwort zu erwarten, drückt sie ihr die frischen Laborwerte in die Hand. Die junge Frau will ja unbedingt in ein anderes Land fahren. Nach Westberlin.

Obwohl der Standard in West- und Ostberlin nach einhelliger Expertenmeinung gleich ist, gehen viele Patienten lieber dorthin, wo sie herkommen. Und selbst bei der Ärzteschaft des westostvereinigten Standorts Charité und Rudolf-Virchow-Klinikum gibt es kaum Wir-Gefühl. „Dass Virchow und Charité ein Standort sind, haben die Mediziner beider Häuser überhaupt noch nicht verinnerlicht“, sagt Beate Hübner (CDU), bis zum November Gesundheitssenatorin in Berlin. Auch der Verwaltungsdirektor von Charité und Virchow, Bernhard Motzkus, sagt: „Fast alle unsere Patienten gehen je nach Herkunft entweder in die Charité oder ins Virchow.“

„Mist, wer kann denn hier Ostwerte lesen?“, fragt die Westärztin in der Notaufnahme des Virchow-Kankenhauses. Sie läuft um die Trage herum und wedelt mit dem Blatt in der Luft. „Hat denn hier niemand eine Umrechnungstabelle?“ Wenig später hört man sie in einem Nebenraum laut herumrechnen. „Na ja, wenn man das als Normalwert ansieht, dann müsste ja der Wert erhöht sein.“

In Berlin wird mit zweierlei Maß gemessen: In den frühen Siebzigerjahren gab es auf internationaler Ebene Bestrebungen die Meßnormen bei Blutwerten zu vereinheitlichen. Die DDR übernahm diese naturwissenschaftlich korrekten Einheiten „mol“. Der Westen bleib beim Deziliter. Bis heute. Prekär ist: Seit der Zusammenlegung der beiden Standorte muss auch die Charité mit der überholten Maßeinheit West messen. Wenn ein Patient aus einem östlichen Bezirkskrankenhaus eingewiesen wird, muss umgerechnet werden.

Nicht selten werden Vorurteile über Bord geworfen: „Als ich das Haus gesehen habe, dachte ich, es haut mich um“, erzählt eine junge Richterin aus Westdeutschland, die sich einen Arzt in Prenzlauer Berg gesucht hatte. Dort beginnt die Stadt langsam zusammenzuwachsen. Die Bevölkerung hat sich statistisch gesehen einmal ausgetauscht. An dem Haus des Frauenarztes bröckelt die Fassade ab. Graffiti prangt auf grauen Wänden. „Da soll ich jetzt rein?“, hatte sie sich gefragt. Drinnen sei es etwas besser gewesen: „Der Charme von Ikea.“ Mit dem Frauenarzt, der mittlerweile auch die Geburt ihres Babys begleitet hat, ist sie „sehr zufrieden“. „Als Patient im Osten ist man keine Nummer“, sagt die Frau. „Man wird als Mensch wahrgenommen.“ Nur der Blick des Arztes irritiere sie. „Der geht irgendwie immer an mir vorbei.“

Das misstrauische Beäugen ist beiden Seiten der Stadt eigen. In Hellersdorf, wo noch „die rote Fahne weht und Panzer fahren“, wie der Arzt Ingo Tempel sagt, gibt es nur wenige Patienten aus dem Westen. Es falle ihm immer wieder auf, dass die immer schon über alles vorher Bescheid wüssten. „Dann grinse ich in mich hinein.“

Umgekehrt wird den Ärzten im Osten häufig der Vorwurf gemacht, sie seien autoritär. Nicht Ostdeutsche erheben diesen Vorwurf, sondern Westdeutsche. Die wollen die Ostdeutschen dann schon mal „retten“, sozusagen vor ihresgleichen.

Ein 30-Jähriger erzählt über seinen Aufenthalt im Ostberliner Krankenhaus Lichtenberg: „Meine Freundin wollte mich da rausholen, als sie bemerkte, wie die Ärzte mir Anordnungen gaben.“ „Du musst hier weg“, rief sie aufgebracht. Der Freund war anderer Meinung: „Angeblich wurde ich nur gemaßregelt, aber nicht ordentlich behandelt. Ich selbst fühlte mich gut aufgehoben.“ Die Freundin stammt aus dem Westen. Der Freund ist in der DDR groß geworden. In Lichtenberg.

Annette Rollmann