Vornehm nur aus sicherer Distanz

Ian Buruma hat eine brillante Analyse der politischen Kultur Großbritanniens verfasst. Seine Studie „Voltaire’s Coconuts“ erhellt, weshalb die Insel im bürgerlichen Zeitalter nie anfällig war für Barbaren ■ Von Tsafrir Cohen

Frankophile können sich auf die gute französische Küche, Hochkultur und Lebensart berufen; die Liebhaber des Landes, wo die Zitronen blühen, auf Klima, Landschaft und Geschichte sowie – zur Bestürzung mancher Frankophile – auf Barolo und toskanische oder neapolitanische Küche. Doch warum, um alle Fish & Chips in der Welt, soll man Anglophiler, gar Anglomane werden?

Doch die Frage verrät den im Inneren des europäischen Festlandes Lebenden. In der gediegenen niederländischen Residenzstadt Den Haag sieht man das ganz anders. Denn, vom Baltikum über die Hafen- und Handelsstädte Hamburg und Amsterdam bis nach Lissabon erstreckt sich ein mariner Wall der Anglophilie. Ian Buruma, holländischer Journalist deutsch- und britisch-jüdischer Herkunft, ist einer von diesen selten gewordenen Anglomanen.

In seinem Buch „Voltaire’s Coconuts“, einer verfeinerten Mischung zwischen Ideengeschichte und Autobiografie, porträtiert Buruma eine Reihe von Festlandeuropäern – von Voltaire über Goethe, Fürst Pückler, Marx oder Herzl bis zum kürzlich verstorbenen Ideenhistoriker Isaiah Berlin und als jüngsten sich selbst samt Familie. Über das Panorama der Anglophilie – ein Phänomen der oberen Klassen und Intellektuellen – entwickelt sich auch ein alt-neuer Blick auf das heutige Europa, der sich vor allem für die auf Kontinentaleuropa zentrierten deutschen Intellektuellen lohnt.

Buruma verbrachte seine Kindheit in Den Haag in einem feinen bürgerlichen Vorort. Hier kleidet man sich englisch, mit in London gekauften seidenen Clubkrawatten, Tweeds und Blazern, und die Männer hören Cricketnachrichten, während sie den Rasen mähen. Man ist hier liberal, eher links. Der Anglophilie tut dies keinen Abbruch, denn Anglophilie schließt die Freiheit nicht aus, sondern riecht für den jungen Buruma geradezu danach. Sie erlaubt es einer höheren liberalen Schicht, einem Nationalstolz zu fröhnen, ohne sich dadurch chauvinistisch oder reaktionär vorkommen zu müssen.

Und: Anglophilie hat einen wunderbaren Hauch von Snobismus: Sie passt zu ihrer sozialen Klasse, und sie hat Klasse. Dies ist der Schlüssel zum unwiderstehlichen Charme der Anglophilie: die Mischung zwischen der Realität einer Gesellschaft, die seit Menschengedenken Asyl für alle Geschädigten der Irrungen und Wirrungen des Festlandes bietet, und dem Snobismus einer Oberschicht, die über Jahrhunderte zu einer perfekt anmutenden Zivilisation kultiviert wurde.

Voltaire ist für Buruma der erste Anglophile. Auf der Flucht vor Repressionen in Frankreich stellt der Philosoph in England fest, England sei eine Insel der Vernunft und der Freiheit – im krassen Gegensatz zur Despotie, die er auf dem Festland hat ertragen müssen. Mit der Behauptung konfrontiert, dies sei eine spezielle englische Entwicklung, die woanders nicht gedeihen könne, antwortet er, so wie die kostbaren Samen der Kokusnuss können auch Freiheit und Vernunft überall gedeihen.

Diese Metapher stellt für Buruma den Kern der Anglophilie dar. Britannien ist vielleicht eine romantische Erscheinung, es ist eine geschichtlich gewachsene Entität, doch das seien nur Attribute. Die Idee von Britannien besteht für den Autor vielmehr in seinen Institutionen, in seinem Rechtssystem, es ist eine politische Idee (Realität gewordener Habermasscher „Verfassungspatriotismus“). Kultiviert, artifiziell, zivilisiert, gezähmt, hat sie nichts Angeborenes an sich und zieht deshalb Fremde an: Ideell können sie alle daran teilhaben.

Das beste Beispiel hierfür ist der Gentleman. Der Gentleman wird nicht geboren, er wird gemacht; er ist zum Administrator getrimmt, nicht zum Erobern oder Schöpfen; seine Manieren wurden durch Erziehung zum Diamanten geschliffen, mit dem Naturburschen, dem noble savage, hat er nichts gemein. In diesem Sinne kann jeder Gentleman werden. Den Kick bekommt man, wenn man zum Gentleman sein liberales Weltbild und sein aristokratisches Gebaren hinzudenkt. Und wenn wir erst zum Dandy kommen ...

Der russische Revoluzzer und Schriftsteller Alexander Herzen, der wie Garibaldi, Mazzini, Kossuth und Marx im Londoner Exil weilte, wird von Buruma zustimmend zitiert: „Unter den Engländern schwindet die Roheit, je höher man intellektuell und schichtspezifisch kommt; bei den Deutschen schwindet sie nie.“ Und Theodor Herzl, ein Revolutionär anderer Art, meinte, nachdem er festgestellt hatte, dass er in seinem Hotel Wochen, Monate, ja Jahre hätte verbringen können, der Portier und alle anderen Hotelangestellten würden immer mit den gleichen perfekten Manieren und der gleichen schüchternen Haltung zur Stelle sein: „Eine perfekte Lebensform ist gefunden worden, und man möchte dies bewahren. Konservatismus braucht keine weiteren Erklärungen.“

Da fängt das Problem für den Anglophilen an. Denn Britannien hatte immer eine Aversion gegen das revolutionäre Gebaren des Festlandes. Im wunderbaren Kapitel über Anglophilie und die artverwandte Anglophobie bei den kontinentalen Revoluzzern um 1848 wird deutlich, dass sie zwar geduldet wurden, doch nicht den geringsten revolutionären Funken über den Kanal hinüberzündeln konnten. Das machte die Insel immun gegen all die Napoleons und Hitlers, doch beim näheren Hinsehen stößt den kontinentalen Anglophilen die Ungleichheit zwischen Arm und Reich vor den Kopf: liberty goes neoliberal. Dazu das weiter bestehende Klassensystem, das old boys system, und all die chronischen Leiden, denen die Briten mit einem mustn’t complain („Bitte nicht beschweren“) begegnen.

Buruma zeigt sich als ein enttäuschter Liebhaber: Was ihm wie liebliche „arkadische“ Landschaften erschien, ist ihm bei der Arbeit im erzkonservativen Wochenmagazin Spectator sauer aufgestoßen: Das, was ihm im besten Sinne british erschien: eine konservative Zeitung, die sich nie zu ernst nimmt, die Krone des distanzierten Humors, theatralisch, wenn nicht gar camp, entpuppt sich als ein reaktionäres Sprachrohr des kruden Thatcherismus.

„Voltaire’s Coconuts“ endet in den gegenwärtigen Debatten Großbritanniens im Zusammenhang mit dem Beziehungsgeflecht zu Europa mit einer pessimistischen Note: Die Kontinentaleuropäer haben allen Grund, sich von ihren nationalen Identitäten zu lösen. Doch Großbritanniens Identität basiert auf Gesetzen. Zerfällt diese Form in Folge der europäischen Einigung, rücken Englands Fußballhooligans, Fuchsjäger und Schottlands zornige Fischer ins Blickfeld. Deutschland bannt seine bösen Geister durch Europa – in Britannien könnten sie dadurch erst zum Leben erweckt werden.

Dieses Buch verdient, auch auf Deutsch veröffentlicht zu werden.

Ian Buruma: „Voltaire’s Coconuts or Anglomania in Europe“. Weidenfeld & Nicolson, London 1999, 326 Seiten, etwa 57 Mark