Rechtzeitig zu den amerikanischen Vorwahlen streiten sich US-Historiker über die Berechtigung des Antikommunismus der 50er-Jahre. Hat Senator McCarthys Hetze der Demokratie genutzt?
: Der nationale Bösewicht

Kommunisten haben durch ihr Leugnen und Verstecken McCarthy möglich gemacht

Vor fast genau 50 Jahren begann eine kurze, aber berüchtigte Ära der amerikanischen Geschichte. In dem verrußten Industrieort Wheeling in West Virginia hatte ein unbekannter Senator zwei Reden für ein traditionelles Diner zu Ehren Abraham Lincolns vorbereitet und überlegte bis zu dem Augenblick, da er die Stimme erhob und das Wort an eine Gruppe von republikanischen Damen richtete, welche er halten sollte. Eine handelte von der Situation auf dem Wohnungsmarkt im Nachkriegsamerika. Die andere sollte eines der düstersten Kapitel amerikanischer Geschichte im 20. Jahrhundert aufschlagen. Was Senator Joe McCarthy aus der Tasche zog, war ein Blatt, das er in einer dramatischen Geste mit den Worten schwenkte: „Ich habe hier die Namen von 205 Kommunisten, die im State Department Dienst tun.“

Der Tonbandmitschnitt der Rede wurde, versehentlich, gelöscht. Und man mag es kaum glauben: Sie machte zunächst keine Schlagzeilen. Das State Department ließ sich zu einem kurzen Dementi herab. Auf McCarthys nächstem Stopp in Kalifornien wurden aus den 205 Kommunisten 57, und die Zahl sollte sich noch mehrfach reduzieren – bis schließlich kein Kommunist mehr übrig blieb. Trotzdem leitete McCarthy eine Ära ein, die seinen Namen trägt. Bis heute gilt er als der gefallene Engel Amerikas: „Sein Bild ist unverändert negativ, er gilt als nationale Schande, als finsterster Bösewicht der Nation, als unser King John“, sagt der Historiker Thomas C. Reeves, der letztes Jahr eine Biografie über den Mann vorgelegt hat. Es ist nicht das einzige Buch über McCarthy und seine Ära. Rechtzeitig zur heißen Phase im amerikanischen Vorwahlkampf liegen verschiedene McCarthy-Studien druckfrisch auf Büchertischen und bereichern die politisch-ideologische Debatte.

Um McCarthy ist es 50 Jahre nach seiner infamen Rede zu einer Art Historikerstreit gekommen. 50 Jahre nach dem Beginn einer Hatz auf Intellektuelle, Liberale und Kommunisten im Staatsdienst und in den Medien übt sich Amerikas Historikerzunft in Vergangenheitsbewältigung. Neu belebt wurde die Diskussion um McCarthy durch die Aktenkonvolute, die nach dem Ende des Kalten Kriegs aufgetaucht sind. Dazu gehört das neue, vom KGB höchst selektiv freigegebene Material sowie die seit 1995 freigegebenen „Venona Dokumente“ – geheime Botschaften, die in den 30er- und 40er-Jahren zwischen dem KGB und sowjetischen Agenten in Amerika ausgetauscht wurden, und deren Entschlüsselung dem amerikanischen Nationalen Sicherheitsdienst (NSA) 1942 gelang. Heute weiß man: Julius Rosenberg hat tatsächlich Atomgeheimnisse an die Sowjetunion verraten und seine Frau Ethel wahrscheinlich davon gewusst. (1953 wurden beide wegen Spionage hingerichtet.) Man glaubt heute zu wissen, dass auch Alger Hiss Geheimnisse an die Sowjetunion weitergeleitet hat – obwohl der kürzlich im Alter von 92 Jahren verstorbene ehemalige Beamte im State Department bis zuletzt seine Unschuld beteuert hatte. Robert Oppenheimer hingegen, so viel ist klar, wurde zu Unrecht des Geheimnisverrats beschuldigt. Und die Kommunistische Partei der USA (CPUSA)? Sie war nachweislich mehr eine Spionageorganisation der Sowjetunion als eine nationale Partei. Der Historiker Allen Weinstein hat zusammen mit seinem russischen Counterpart Alexander Wassiljew unter dem Titel „Der Gespensterwald“ letztes Jahr eine auf KGB-Dokumenten beruhende akribische Geschichte sowjetischer Spionage in den USA geschrieben und die Tätigkeit mehrerer dutzend Mitglieder der Kommunistischen Partei dokumentiert. Gerade die neuerliche Diskussion um die Rolle der CPUSA und sowjetische Spionage hat natürlich auch die Frage nach McCarthy neu aufgeworfen. Die Kontroverse hat dabei mehrere Facetten, läuft aber in letzter Konsequenz auf die Frage hinaus, wer die eigentlichen Opfer des McCarthyismus sind: Amerikas Linke und Liberale, die in den 50er-Jahren eingeschüchtert und mundtot gemacht wurden, oder die Rechte, deren Kritik am amerikanischen Liberalismus und Kommunismus zusammen mit dem McCarthyismus verteufelt wurde?

Im Zentrum der neu aufgebrochenen Diskussion um den McCarthyismus steht eigenartigerweise die Neubewertung der sowjetischen Spionage – und nicht der Vorwurf McCarthys, Amerikas Institutionen seien von Kommunisten unterwandert. Tatsächlich war sowjetische Spionagering 1945 vor allem durch die Überläuferin Elizabeth Bentley verraten und dann zerschlagen worden. „Nicht einen einzigen Kommunisten hat McCarthy im State Department entdeckt – und auch sonst nirgends“, sagt dazu der Historiker Thomas Reeves. Wenn es denn aber, wie man heute weiß, wenigstens zeitweilig tatsächlich sowjetische Spionage gab und deren Agenten sogar bis in Amerikas höchste Staatsämter vordringen konnten, warum hält sich dann bis heute die Auffassung, daß McCarthy ein wüster Demagoge und Kommunistenfresser war, dessen niederträchtige Kampagne jeder Grundlage entbehrte?

Diese Frage ist erstmals kurz nach McCarthys Entmachtung 1955 von dem konservativen Kolumnisten William Buckley in dem Buch: „McCarthy und seine Feinde“ diskutiert worden, das eine Rechtfertigung McCarthys ist. Durchgesetzt aber hat sich in der amerikanischen Historikerwelt die Auffassung Hannah Arendts, die im McCarthyismus weiter nichts sah als die Spiegelverkehrung des Kommunismus. Heute gewinnt der liberale Soziologe Seymour Martin Lipset der Frage nach der Beurteilung des amerikanischen Kommunismus allerdings eine ganz neue Interpretation ab: „Den größten Schaden haben tatsächlich die Kommunisten dem Land zugefügt. Sie selbst haben sich durch ihr Leugnen und Verstecken sich nicht nur in die Meineide verstrickt, die oft genug erst zu ihrer Verurteilung führten, sie haben den McCarthyismus überhaupt erst möglich gemacht. Warum ist nicht einer unter ihnen aufgestanden und hat gesagt, „Ja, ich bin Kommunist, und in Amerika ist das mein gutes Recht?“. Lipsets Urteil ist eine Variante der Kritik an Amerikas liberalen Intellektuellen, die – wie ihre europäischen Counterparts – vor der Auseinandersetzung mit dem antiliberalen Kommunismus zurückwichen. Das Schweigen zu den Moskauer Prozessen war der Sündenfall des modernen Liberalismus, so der Historiker Ronald Radosh. Am anderen Ende des Spektrums steht Ellen Schrecker, Historikerin an der Yeshiva-Universität in New York, die den McCarthyismus für den Niedergang der zivilen Gesellschaft verantwortlich macht: „Watergate, der Iran-Contra-Skandal und letztlich auch das Massaker von Waco gehen auf den McCarthyismus zurück.“

Die Kommunistische Partei der USA war auch eine Spionageorganisation der UdSSR

Historischer Revisonismus – der Versuch also McCarthy neu zu bewerten – ist ein zweischneidiges Schwert. Allen Weinstein, der die bisher gründlichste Untersuchung sowjetischer Spionage in den USA zu Zeiten Stalins schrieb, bewertete bei einer öffentlichen Vorstellung seines Buchs Ende Januar dieses Jahres den McCarthyismus auf seine ganz eigene Weise: „Die 50er-Jahre waren nicht nur durch McCarthy bestimmt und McCarthyismus nicht nur von Feigheit gekennzeichnet. Es hat mutige Richter gegeben, die erstinstanzliche Urteile gegen angebliche Kommunisten aufgehoben haben, es hat Kommentatoren gegeben, die gegen McCarthy Stellung bezogen haben. Der McCarthyismus und die Auseinandersetzung mit ihm haben die Grundlagen der zivilen Gesellschaft in Amerika erweitert – wo nicht geschaffen. Dem McCarthyismus ist es letztlich zu danken, dass während des Vietnamkriegs eine zwar leidenschaftliche, aber offene Diskussion über dessen Sinn und Klugheit geführt werden konnte.“ Für Weinstein war der McCarthyismus letztlich Schule und Prüfstein des Liberalismus. Für den Journalisten Jacob Weisberg, der den neuen Historikerstreit in der New York Times verfolgt, ist die Auseinandersetzung um McCarthy die Fortführung des Kalten Kriegs mit anderen Mitteln. „Die Konservativen wollten, dass der Kommunismus verschwindet.“ Was einige von ihnen nicht beachteten, sei, dass mit dem Kommunismus nicht nur der Antikommunismus, sondern für viele auch die emotionale und intellektuelle Heimat verschwinden würde, die sich um Kommunismus und Antikommunismus gebildet hatte. Peter Tautfest